Es war einmal an einem kalten Novemberabend, da saß ich mit meiner Urgroßmutter am warmen Kohleofen. Die alte Frau hatte sich eine Erkältung eingefangen, die sie eiskalt in ihren grausamen Klauen hielt. Ihre Wangen glühten vom Fieber, das in ihr tobte. Trotzdem zitterte sie, obwohl sie drei dicke Decken über ihren Körper geschlungen hatte. Ich war noch ein Kind und verstand nicht, wie ernst es um ihre Gesundheit stand. Sie strahlte, trotz ihres hohen Alters von über 90 Jahre mehr Energie aus, als mancher Jugendlicher es heute tut. In ihrer Nähe fühlte ich mich immer wohl. Oft war ich bei ihr, um Geschichten aus ihrer Kindheit zu hören, die sie nur mir erzählte. Vielleicht lag das auch daran, dass ich der Einzige war, der ihr zuhörte. Sie hustete. Schwerfällig schaukelnd führte sie die Tasse Grog an ihren Mund, schlürfte lautstark einen großen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Tisch in der Nähe des Ofens. Ihre Augen waren in eine weite Ferne gerückt und ganz plötzlich lächelte sie, als sähe sie einen Freund, den sie schon seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Sie sah durch mich durch. “Drak wartet auf mich.”, sagte sie leise. Nicht zu mir oder irgendjemand anderem im Raum. Sie sprach zu diesem Freund, den niemand sehen konnte und der doch im Raum vor ihr stand. Langsam nickte sie. “Ja es wird Zeit, dass wir uns endlich treffen.” Erschrocken sprang ich auf. Ich griff ihre Hand, die sich heiß und feucht anfühlte. Ihre Augen sprangen in die Gegenwart zurück. Ganz plötzlich sah sie nicht mehr durch mich hindurch, sondern direkt in meine Augen. Ihre Hand, die vor einem Augenblick noch zwischen meinen Finger lagen, pressten jetzt diese fest zusammen. Sie sagte: “Du musst den Kerzenständer finden. Er wird ihn zurückbringen. Das ist die einzige Chance.” Ich sah sie fragend an. Sie meinte jedes Wort von dem, was sie sagte. Mir wurde schlagartig klar, dass sie mich nur loslassen würde, wenn ich ihr versprach, ihren Kerzenständer zu finden. Vor Angst füllten sich meine Augen mit Tränen. Mir blieb nur über, mit dem Kopf zu nicken. Ihr Griff löste sich und ich bekam die schmerzende Hand los. Sie blickte mich noch eine Minuten an. Dann wand sie ihren Blick von meinem. Nach einer weiteren Minuten fragte ich leise: “Welchen Kerzenständer meinst Du?” Verwirrt sah mich meine Urgroßmutter an. Langsam schüttelte sie den Kopf. Dann fragte sie: “Hab ich von einem Kerzenständer erzählt?” Ich nickte und sagte: “Ich musste Dir versprechen, dass ich ihn finde.” Sie lachte leise auf. Ihr Lachen ging in einen Husten über, dass sich gefährlich anhörte. Nachdem sie sich beruhigt hatte, sagte sie: “Das ist eine alte Geschichte.” “Wir haben Zeit dafür.” Mit großen Augen und einem Lächeln auf den Lippen sah sie mir in die Augen und sagte: “Vielleicht haben wir dafür noch die Zeit, aber es ist nicht mehr viel davon über.” Dann nahm sie einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse und begann mit der Geschichte. Vor langer, langer Zeit, als Herten noch ein einsames Dorf war, lebte in der Nähe der Emscher ein Junge, der gerne faul in der Sonne lag und angelte. Es gefiel ihm, den ganzen Tag nichts anders zu tun. Er war einer von sieben Geschwistern, die alle fleißig im Haushalt und auf dem Hof halfen. Er hingegen hatte nichts vom Fleiß seiner Familie geerbt. Nur im Winter, wenn der Schnee auf das gefrohrene Wasser fiel, unterbrach er seine Faulenzerrei und drehte auf Schlittschuhen seine Runden über den Fluss. Trotz seiner untugenthaften Lebensweise war der Junge im ganzen Dorf Herten wegen seiner Freundlichkeit und Fröhlichkeit beliebt und geachtet. Selbst seine Eltern und Geschwister konnten ihm nicht lange wütend sein, zumal es ihm immer wieder gelang, durch gute Ausreden seine Taten zu rechtfertigen. Außerdem brachte er ein um den anderen Tag am Abend leckere Fische nach Hause, über die sich seine gesamte Familie freute. Eines Vormittags, er hatte wieder einmal die Schule geschwänzt, um seiner Faulheit nachzugehen, riss ein riesiger Fisch an seiner Angel. Fast wäre er mitsamt der Rute in der Emscher verschwunden und niemals wieder aufgetaucht, doch es gelang ihm noch im letzten Augenblick, sich an einem Baum festzuhalten, an dem er vorher gedöst hatte. Er musste all seine Kräfte zusammennehmen, um die Angel überhaupt festzuhalten. An ein Einholen das Fangs, war gar nicht zu denken. Der Junge stand so eine lange Zeit, immer in der Hoffnung, dass das Ziehen am anderen Ende der Leine irgendwann nachgeben würde. Tatsächlich meinte er, dass es immer stärker wurde, je länger er dort stand und mit dem Fisch kämpfte. Er wollte auf keinen Fall seine Angel aufgeben, da er Wochenlang an ihr gearbeitet hatte, jedoch wusste er nicht genau, wie langer er sie noch halten konnte, bevor seine Kräfte nachließen. Wie er da so stand, kam ein Kobold am Flußufer entlang. Damals waren die kleinen Männer noch häufiger anzutreffen. Manch Einer gelang es sogar, in seinem Leben mehr als einen Kobold zu sehen. Es war die Zeit, bevor sie von der Erde verschwanden oder sich irgendwo versteckten. Der Junge jedenfalls war sehr überrascht, als er den kleinen Mann erscheinen sah. Mit einem diebischen Lächeln auf dem Lippen blickte ihn der Kobold an und sagte: “Du scheinst heute viel Spaß zu haben.” “Ich kann meine Angel kaum noch halten.” “Dann wirf sie doch fort.” “Sie ist meine beste und ich will mich nicht von ihr lösen.” “Dann wirst Du mit ihr im Fluss verschwinden. Ist Dir Dein Leben mehr wert, als ein Stock mit einer Leine?” “Du könntest mir helfen, den Fisch ans Land zu ziehen.” “Ich könnte auch einfach nur zuschauen, was als nächstes passiert. Das scheint mir lustiger zu sein, als sich mit einem schweren Fang abzumühen.” “Ich bitte Dich, hilf mir.” Der Kobold lachte laut auf. “Die Zeiten, in denen ich Menschen half, sind schon lange vorbei. Die Hilfe hat mir nur Ärger bereitet.” “Hast Du denn kein Herz?” “Wenn ich ein Herz hätte, wäre ich schon seit Jahrtausenden tot. Wenn etwas in Dir schlägt, dann hörte es auch eines Tages auf zu schlagen.” Der Junge stöhnte laut auf. Mit aller verbliebenen Kraft, riss er erneut die Angel an seinen Körper, während er sich mit dem linken Arm am Baum festhielt. Seine Worte waren gepresst. “Bitte helft mir doch.” Der Kobold kratzte sich am Kinn und sagte: “Was gibst Du mir, wenn ich Dir helfe?” “Wir können verhandeln, sobald Du mir geholfen hast. Mir ist jetzt nicht nach denken zumute.” Der Kobold näherte sich der Angel und mit einem Ruck am Seil schnellte der riesige Barsch am anderen Ende durch die Luft und knallte am Flußufer auf dem Boden auf. Der kleine Kerl lachte und klatscht in die Hände. “Das ist ein ganz feiner Fang. Du wirst bestimmt damit Deine Freude haben.” Der Junge rieb sich unterdessen die Schulter, die arg schmerzte. Er blickte zu dem kleinen Kerl. “Jetzt können wir uns darüber unterhalten, was Du von mir willst.” “Was ist Dir lieb, was Du mir geben könntest?” Der Knabe lachte und sagte: “Der alte Kerzenständer meiner toten Oma war mir immer wichtig. Er ist die einzige Erinnerung an sie, außer den Geschichten in meinem Kopf. Diesen alten Kerzenständer kann ich Dir geben.” Der Kobold lachte und sagte: “Das ist ein schönes Geschenk für meine Hilfe. Wir werden uns morgen früh zur gleichen Zeit am Fluß treffen. Dann kannst Du ihn mir geben.” So sprach er und verschwand. Der Junge brauchte mehr als drei Stunden, um den Fisch nach Hause zu tragen, obwohl er die Strecke normalerweise in einer knappen halben Stunde schaffte. Immer wieder musste er ausruhen und neue Kräfte sammeln, so schwer war der Fisch. Als er ihn endlich über die Türschwelle geschleppt hatte, frohlockte seine gesamte Familie über das willkommene Festessen. Sein Vater lobte ihn. Er klopfte ihm auf den Rücken und sprach: “Wie ist es Dir gelungen, ein solch großen Fang an Land zu ziehen?” Der Knabe antwortete ehrlich: “Ein kleiner Mann half mir dabei.” Der Vater runzelte die Stirn. Es war allgemein bekannt, dass Kobold für ihre Hilfe, einen hohen Preis verlangte. Er hatte Angst davor, dass sein Sohn ein solch hohen Preis nicht zahlen konnte. Daher fragte er: “Was hat der Kobold für seine Hilfe von Dir verlangt?” Der Knabe ließ den Kopf hängen und sagte: “Er will den alten Kernzenleuchte von Oma. Ich versprach ihn den, für seine Hilfe.” Sein Vater hingegen lachte laut auf. “Das alte Ding hat keinen Wert. Warum versprachst Du ihm nicht Gold und Silber? Wie soll ein Kobold denn mit so einem Tand zufrieden sein?” Der Junge sprach leise: “Ich versprach ihm, das kostbarste, was ich habe. Und der Kerzenständer liegt mir am Herz.” “Ich gebe Dir genug Gold mit, damit Du ihn bezahlen kannst. Mach Dir darüber keine Gedanken.” Am nächsten Morgen trafen sich der Junge und der Kobold erneut am Fluß. Der kleine Mann wartete schon auf ihn. Er hatte es sich am Ufer gemütlich gemacht und streckte seine Füße in die Fluten. Als er den Jungen kommen sah, wand er sich kurz um und begrüßte ihn mit den Worten: “Hast Du an meine Bezahlung gedacht?” Der Jung sagte: “Ich habe Dir Gold und Silber mitgebracht.” “Versprachst Du mir nicht den alten Kerzenständer?” “Vielleicht willst Du Gold und Silber viel lieber als das alte Stück.” Der Kobold lachte heiser auf. Er sagte: “Zeig mir das Ding, was Dir so am Herzen liegt.” Wie er es versprochen hatte, war der Kerzenständer in des Jungen Tasche verborgen. Er holte ihn hervor und hielt ihm dem Kobold hin. Dieser wiederum fragte: “Was würdest Du mir lieber geben? Den Kerzenständer oder das Gold?” Ohne auch nur darüber nachzudenken, sagte der Junge: “Natürlich das Gold.” “Dann gib mir den Ständer.” Schweren Herzens überreichte ihm der Junge den Kerzenständer. Leid lag auf seiner Miene und sein Kopf ließ er hängen. Der Kobold betrachtete den alten Ständer von allen Seiten, erhob ihn und blickte unter ihn. Dann lachte er. “Du gefällst mir, mein Freund. Lange habe ich Dich beobachtet, wie Du am Fluß gefischt hast. Ich sah, dass Du niemals gierig wurde, so wie es so viele Deiner Art werden. Du warst immer genügsam und wusstest, wann es an der Zeit war, einem Fisch die Freiheit zu schenken oder ihn für Dich zu behalten. Du lagst so oft im Gras und hast die wunderbare Natur genossen, so wie wir es gerne tun. Du lebst zufrieden und glücklich. Schon als ich Dich das erste Mal sah, gefiel mir Dein Verhalten. Dass Du mir das Wichtigste, was Du zu geben hast, tatsächlich gibst, ist ein weiteres Zeichen Deiner guten Art. Die Wahrheit liegt Dir immer auf den Lippen und Du lässt Dein Herz sprechen, noch bevor Dein Kopf darüber nachdenken kann.” Dann überreichte er ihm den Kerzenständer zurück und sagte: “Ich stehe ab heute in Deiner Schuld. Wenn Du meine Hilfe brauchst, dann ließ die Worte, die ich Dir auf die Unterseite des Ständers schrieb. Egal wie weit ich auch von Dir entfernt bin, ich werde Dir zuhilfe kommen.” Der Junge sprach: “Dann nimm doch das Gold, welches mir mein Vater für Dich gab. Es soll Dir helfen.” “Gold und Silber kann ich nicht gebrauchen. Ich will nichts von den Reichtümern Deines Vaters, so wie Du auch nichts davon willst. Ab heute sollst Du in allen Dingen, die Du unternimmst, glücklich sein.” Mit diesen Worten verschwand der Kobold. Der Jungen hingegen stand am Ufer und betrachtete die Unterseite des Kerzenständers. Die Worte, die dort standen, brannten sich in sein Herz. Er vergaß sie nie und führte von da an ein glückliches und erfülltest Leben. Er brauchte die Worte nie, da er nie in einer Situation kam, die die Hilfe des Kobolds benötigt hätte. An seinem Sterbebett überreichte er den Ständern seinem Sohn, der genau die gleichen guten Eigenschaften hatte, wie er sie selbst bis zu seinem Ende pflegte und auch diesem Sohn gelang alles in seinem Leben. So wurde der Ständer über Generationen weitergereicht. Meine Uroma erzählte mir diese Geschichte und lächelte. Sie sagte: “Einst war dieser Kerzenständer in unserm Besitz. Wir sind Diejenigen, die das Glück des Kobolds hatten. Leider entwendete uns jemand das alte Stück und ein Schatten fiel über uns. Es ist an der Zeit, dass wir den Ständer wieder zurück in unsere Familie bringen.” Ich versprach, nachdem sie den Ständer genau beschrieb, meine Augen und Ohren offen zu halten. Ich würde den Kerzenständer besorgen und danach den Kobold rufen. Er musste mir einen Gefallen tun. Ich wollte mehr über ihn und seine Art erfahren.