Knacker wohnte eine ganze Zeit seines Lebens an der Emscher. Er mochte den Fluß, der damals voller Fische war. Er konnte sich den gesamten Tag mit Fischen vertreiben, ohne auch nur einmal von einem Menschen gestört zu werden. Die Emscher war zu dieser Zeit auch der Grenzfluss teilweise verfeindeter Großgrundbesitzer, die sich ungerne gegenseitig über den Weg liefen. Eines schönen Tages saß Knacker an seinem bevorzugten Platz, der etwas abseits lag und von keiner Seite eingesehen konnte und genoss den Tag. Er hatte einen Strohhalm im Mund, wie er das immer zu tun pflegte, wippte mit den Füßen und genoss die Sonne, die seine Nasenspitze kitzelte. Ganz plötzlich hörte er Stimmen in der Nähe, die aufgeregt umeinanderschrien. Neugierig streckte er seinen Hals, um durch die hohen Büsche zu erspähen, wer ihn da seine Fische vertrieb. Dort drüben am anderen Ufer stand eine Menschenmenge um ein unschuldig blickendes Mädchen herum. Eine in schwarz gewandte Gestalt streckte gerade seinen Zeigefinger in ihr Gesicht und schrie: “Hexe!” Knacker, die die Religionen der damaligen Zeit irgendwie befremdete, schüttelte verwirrt seinen Kopf. Eine Hexe, so wusste er aus eigener Erfahrung, sah überhaupt gar nicht so aus, wie dieses kleine Mädchen von vielleicht 14 Jahren. Sie zuckte unter den Worten zusammen, was keine anständige Hexe wirklich gemacht hätte. Ein Mann wie ein Kleiderschrank, wie sie immer mehr in Mode kamen, packte das junge Ding am Arm und zerrte sie zum Wasser. Einige ältere Damen, das Grau in ihren Haaren leuchtete in der Sonne, schrien Verwünschungen von hinten. Sie hatten Geifer im Maul. Im Gegensatz zu der Jungen erinnerte Knacker diese Damen weit mehr an die Hexen, die er früher kennengelernt hatte. Ihnen fehlten allerdings die giftigen Warzen auf ihren Nasenrücken. Ihre Gebaren waren jedoch genauso, wie die alten Fetteln, die er so sehr hasste. Ein paar jüngere Mädchen und Jungen sprangen vergnügt um die Gruppe, als würden sie ein Volksfest feiern. Sie lachten und tanzten und drehten Pirouetten. Einer der Kleinen, ein etwas dicklicher Junge mit strohblondem Haar, schmiss einen Stein nach dem Mädchen, welches als Hexe bezeichnet wurden und das jetzt jämmerlich weinte. Tränen rannen ihr die Wange hinab. Der Prediger erhob erneut seinen Finger und schrie: “Bindet sie und schmeißt sie ins Wasser. Wir werden schon sehen, ob sie schwimmen kann.” Knacker kratze sich am Kopf. Eine Hexe würde man so nicht erkennen können. Allerdings hatte er wenig Lust darauf, den Irrtum aufzuklären. Als magisches Wesen zu dieser Zeit war ihm schon aufgefallen, dass man seine Nähe nicht unbedingt genoss. Viele Menschen bekreuzigten sich, wenn sie ihn in der Nähe erblickten. Die meisten jagten ihn von dannen. Nur wenige stellen ihm heute noch Brot und Milch vor der Tür, wie die Leute es noch vor ein paar Jahren gemacht hatten. Vorsichtig schlich er näher ans Wasser, gleich gegenüber dem Mopp, der jetzt noch lauter schrie. Zwei Jungen traten hervor, griffen die Beschuldigte an beiden Armen, zerrten diese hinter ihren Rücken und verbanden sie mit Stricken, die sie vorher um die Hüften gewickelt hatten. Sie waren schon von Anfang an vorbereitet erschienen. Ihr Handwerk verstanden sie wohl. Einer von Ihnen schlug das Mädchen, dass um sich trat, ins Gesicht, dass man das Klatschen weit über den Fluß hörte. Er lächelte dabei, als wäre ihm ein Kunststück geglückt. Der andere Junge hatte sie hingekniet und verknotete die Beine des Mädchens, die jetzt immer lauter schrie: “Ich bin keine Hexe. Helft mir doch.” Ein Kind warf einen weiteren Stein, der die Angeklagte direkt an der Stirn über den Augen traf. Das Blut, das aus der frischen Wunde sickerte, vermischte sich mit den Tränen des Mädchens. Ihre Augen verdrehten sich. Der Priester rief erneut: “Werft sie in den See. Wir werden ein Gebet sprechen. Sollte sie keine Hexe sein, werden wir Gott darum bitten, sich ihrer Seele anzunehmen.” Knacker wurde von den Vorgängen am anderen Ufer schlecht geworden. Er dachte darüber nach, sein Versteck zu verlassen und zu seiner Höhle zurückzukehren. Die Menschen in seinem Land machten ihn krank. Seine Lust noch mehr von ihnen zu sehen, war auf 0 gesunken. Jedoch tat ihm das Opfer in der Seele weh. Auf der einen Seite wollte er nicht sehen, wie sie ertrank, auf der anderen wollte er auch nicht auffallen. Er überlegte, was er machen sollte. Die Beschuldigte, die jetzt nur noch schlaff in den Armen der Jungen hing, wurde gepackt. Man warf sie mit einem weitem Wurf ins Wasser. Schlagartig war Ruhe eingekehrt. Alle gafften auf die Stelle, an dem das Mädchen die Oberfläche durchschlagen hatte. Knacker konzentrierte sich während dessen. Schweiß trieb auf seine Stirn. Die gesamte Meute starrte auf die Wasseroberfläche, die ganz plötzlich zu brodeln anfing. Zunächst wuchs eine dicke Schaumschicht auf der Oberfläche. Aus den Bläschen stieg weißer Rauch auf, der sich schnell zu einem grauen Nebel verfestigte, der die Leute einschloss. Standen die Menschen vorher noch mit offenen Mündern am Ufer, so waren ihre Gesichter jetzt mit Angst erfüllt. Sie hatten damit gerechnet, dass das Mädchen einfach nicht mehr auftauchte, so wie die vielen anderen, die vor ihr gegangen waren. Bei jedem Mal hatten sie gehofft, endlich eine echte Hexe zu haben, die oben auf dem Wasser lag, als wäre es gefroren. Dass sich etwas Unnatürliches ereignete, hatte zwar jeder gehofft, allerdings keiner erwartet. Bald waren sie alle im Neben verschwunden. Keiner von ihnen war schnell genug, ihm zu entfliehen. Einige Schreie erklangen, als die Menschen merkten, was gerade mit ihnen geschah. Ein Kind, wahrscheinlich der hässliche dicke Junge, schrie auf, als wäre er von einer Maus gebissen worden. Der Priester begann sein Ave Maria zu beten. Einige der älteren Damen stimmten in seine Literei ein. Dann stoppte auf einmal jeglicher Laut. Ganz plötzlich, genauso wie er aufgetaucht war, verzog sich der Neben wieder im Wasser. Als er vollständig verflogen war, standen die Leute wie Salzsäulen an ihren Flecken. Keiner von ihnen konnte sich mehr rühren. Dicke Stricke hatten sich über ihre Arme und Beine und über ihre Münder gelegt. Ihre Augen waren vor Entsetzen aufgerissen und starrten ins Wasser, welches immer noch brodelte. Nach und nach stiegen Leiber aus dem Wasser empor. Zuerst kam das Mädchen, welches sie erst vorhin in die Tiefen gestoßen hatten. Sie hatte ebenfalls ihre Augen weit aufgerissen, lebte allerdings noch. Ihre Kleider waren voller Wasser, die Fesseln hingegen hatten sich gelockert und hingen nur noch lose an ihr hinab. Was allerdings nach ihr aus dem Wasser stieg, war furchbarer anzusehen. Eine nach der Nächsten erschienen die toten Opfer der Hexenjäger. Die meisten waren aufgedunsen, mit strähnigem Haaren und Algen, die ihre Körper umspannten. Eine von ihnen war sogar schon der halbe Kopf verwest und ein Fisch sprang todesmutig aus ihrem Mund zurück ins rettende Nass. Bald standen über 30 Mädchen und Jungen auf dem Wasser in unterschiedlichem Stadium der Verwesung. Einem hing das Auge aus dem Gesicht, welches jetzt die Wasseroberfläche betrachtete. Eine hatte keine Haut mehr über ihren Lippen und man sah ihr Gebiss, welches sich langsam auf und ab bewegte. Als sie alle auf dem Wasser standen, starrten die Lebenden auf die Toten, die ihre Opfer geworden waren. Der Priester hatte die Augen zugekniffen, als wolle er das Böse, welches sich augenscheinig direkt vor ihm ereignete einfach ignorieren. Ein weiterer Strick wickelte sich um seinen Kopf und presste ihm die Augenlieder auseinander. Er jammerte, was allerdings durch den Strick, der seinen Mund verdeckte nur leise zu hören war. Für ein paar Minuten standen die Toten den Lebenden gegenüber. Dann kam Bewegung in sie. Mit staksenden Schritten kamen sie vom Wasser herüber, auf die Lebenden zu. Sie zogen ihre Beine nach und ihre Arme schleiften an ihren Bäuchen, die merkwürdig aufgedunsen aussahen. Bald hatten sie das Wasser verlassen und gingen direkt auf ihre Peiniger zu, bis jeder von ihnem einen der Leute aus dem Dorf gegenüberstand. Auf der Wasseroberfläche blieb nur das Mädchen, welches als letztes Opfer immer noch lebte. Sie stand und sah zu, wie die Toten sie verließen. Das Wasser, welches sich kurzfristig beruhigt hatte, brodelte noch einmal auf und etwas Hässliches und Abstoßendes verließ die Fluten. Knacker hatte sich wirklich Mühe mit seiner Erscheinung gemacht. Er hatte alle seine Fantasie zusammengenommen und war zu einer der Hexen geworden, an die er sich erinnerte. Um die Sache etwas abzurunden, hatte er seiner Figur noch einen Fischschwanz dazugedichtet. Er riss sein Maul auf, in dem winzige kleine Haifischzähne zu bestaunen war und sprach mit einer verstellten hohen Stimme: “Ihr habt zum letzten Mal meine Ruhe gestört. Warum stoß ihr andauernd diese Menschen in mein Reich. Als Meerhexe hat man genug zu tun, mit all den Fischen, die einem die Ruhe stören. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie geschwätzig diese jungen Leute sind, wenn sie erst einmal tot sind. Ich muss mir den gesamten Tag ihre Lebensgeschichten anhören.” Er ließ eine Kunstpause, weil er meinte, dass die Lebenden erst einmal die Worte verdauen müssten. Als er meinte, dass es reichte, sagte er: “Ich gebe meinen Freunden jetzt die Gelegenheit, sich an denen zu rächen, die sie verdammt haben. Vielleicht sind ein paar von euch ja bessere Gesprächspartner, die sich weniger beschweren.” Die Leichen, die zusammenstanden, traten näher an die Leute, die sie vor ihrem Tod beschuldigt hatten. Darunter waren viele Neider, die sich nur an den Habseeligkeiten eines anderen bereichern wollten. Es waren ein paar Damen dabei, die missfielen, dass sich ihre Männer zu den jungen Dingern umgedreht hatten und es war natürlich der Priester dabei, der jetzt an seinen Stricken zerrte. Mit überirdischer Wucht schleuderten sie die Lebenden in den Fluss. Sobald sie ihre Tat vollbracht hatten, sackten sie unter der Schwerkraft zusammen und blieben an dem Ort zurück, an dem sie gerade noch gestanden hatten. Das letzte Opfer hingegen schwebte zum Ufer und blieb dort stehen. Nur noch wenige Leute standen ihr jetzt gegenüber. Ihre Fesseln lösten sich. Die angebliche Meerhexe verschwand ebenfalls in den Fluten. Knacker kletterte nass am anderen Ufer aus dem Meer und rieb sich die Hände. Erst einmal würde so schnell niemand mehr an dieser Stelle an den Fluss kommen und außerdem hatte das Mädchen jetzt vielleicht ihre Ruhe.