Über Jahrhunderte blieb das Gebiet der Ruhr dünn besiedelt, sodass sich Kobolde und Menschen nicht andauernd gegenseitig auf den Füßen standen. Eine Begegnung konnte meist von beiden Seiten vermieden werden. Allerdings waren die Kobolde zu dieser Zeit weitaus weniger scheu als sie es heutzutage sind. Die Menschen wussten von ihren Nachbarn. Viele achteten sie oder machten bewusst einen großen Bogen um die Besitztümer der schon länger anwesenden Art. Als jedoch immer mehr Menschen geboren wurden und ständig neue aus dem Osten dazukamen, stellten die herumziehenden Normaden, die sich Germanen nannten eine Belästigung da, die man nicht weiter ignorieren konnte. Jedenfalls nicht, wenn man seine Ruhe liebte. Mit der Zeit fingen diese Normaden allerdings an, anstelle der eher rudimentären Gebilde aus Ästen und Laub, größere und weniger bewegliche Häuser zu bauen. Sie wurden daher zu einer störenden Belastung für jeden Nachbarn, der sich die Gesellen im besten Fall als weiterziehende Gäste gewünscht hatte. Drak selbst verzweifelte fast an dem Lärm, den ihre Anwesenheit darstellte. Sie schlugen Bäume, jagten in den Wäldern nach Füchsen, Bären, Wölfen, Wildschweinen und Rehen und nach einiger Zeit bauten sie auch noch ausgedehnte Wiesen, auf denen merkwürdiges Gras wuchs oder auf denen ihre Tiere grasten. Zum Glück mochten sie keine Höhlen. Meist waren sie auch zu groß, um den Kobolden ihre Behausungen streitig zu machen. Drak sah sich das Treiben für einige Jahre an. Er lebte zu dieser Zeit irgendwo in der Nähe der heutigen Stadt Gelsenkirchen. Als ihm die gesamte Situation zu viel wurde, beschloss er, sich der Sache anzunehmen. Da er grundsätzlich kein Vertrauen in die Vernunft von anderen Geschöpfen hatte, war ihm sofort klar, dass ein gutes Gespräch weniger zielführend für dieses Problem sein würde. Er verachtete Gewalt, weshalb er auch einen Angriff ausschloss. In seinem Kopf formte sich ein ganz anderer Gedanke. Eines Morgens, er hatte schon durch Beobachtungen gemerkt, dass diese Germanen eine Vorliebe für den hellen Anteil des Tages hegten, ging er deshalb in eins ihrer Lager, stellte sich den größten Platz zwischen ihren Hütten und sprach: “Liebes Volk, da ihr sicherlich begierig drauf wartet, von meiner Weisheit geleitet zu werden, schlage ich mich als König dieser Gemeinde vor. Von diesem Handel würden wir beide profitieren.” Die Bewohner hatten sich zu einem Halbkreis um das kleine Männchen gestellt. Sie sahen ihn jetzt verständnislos an. Eine der Ältesten sprach: “Was ist ein König?” Drak runzelte seine Stirn, sodass sie hohe Wellen schlug. Er blickte von einem schmutzigen Gesicht und einer verschlissenen Gestalt zur nächsten, bis er sie alle betrachtet hatte. Dann schüttelte er den Kopf voller Verzweiflung und sagte: “Weiß denn keiner, was ein König ist?” Jetzt war es an der Zeit, dass sich die Bewohner des Dorfes gegenseitig ansahen. Es stellte sich Ruhe ein, bis jeder den anderen in die Augen geblickt hatte. Ein kleines Kind, dass offensichtlich nicht genau wusste, was hier gerade geschah, sagte: “Was ist ein König?” Drak schüttelte erneut fassungslos seinen Kopf über die Naivität dieser Wilden. Er sagte: “Ein König leitet euch in schweren Zeiten. Er sagt euch, was ihr machen müsst. Er ist für euch da, wenn ihr nicht mehr weiterwisst. Dafür bekommt er eure Anerkennung.“ Das Kind sagte: “Also willst Du unsere Mutter sein? Ich habe aber schon eine Mutter.” “Ein König ist mehr wie ein Vater, als eine Mutter.” “Aber der ist die gesamte Zeit im Wald und vergnügen sich dort mit dem Jagen von Wildschweinen. Wirst Du auch so oft weg sein?” “Ein König ist immer für euch da.” Ein anderes Kind sagte: “Also doch eine Mutter.” Völlig aus dem Konzept gebracht, etwas zu laut und mit dem Fuß auf den Boden tretend, sagte Drak: „Dann bin ich halt die Mutter der Mütter.“ Ein Kind lachte laut auf. „Wie eine Oma siehst Du nicht aus.“ Der Kobold schlug sich mit den Händen gegen die Stirn. „Man muss euch wirklich alles beibringen. Selbst die Wölfe haben mehr Verstand als ihr.“ Dann kam ihm eine Idee. Er blickte erneut zu den Menschen. Mit starker Stimme sprach er: „Ein König ist wie der Leitwolf eines Rudels. Er führt die anderen Wölfe. Er bewacht sie und passt auf, dass ihnen nichts geschieht.“ Einer der Ältesten sagte: „Wir mögen keine Wölfe. Sie reißen unsere Schafe und unser Rind. Es ist besser den obersten Wolf zu erschlagen. Dann zerstreut sich das Rudel.“ Resigniert blickte Drak erneut in die Runde.