Kobolde sind keine geselligen Zeitgenossen. Wenn sie die Wahl haben, bleiben sie lieber allein. Wer diese Tatsache verinnerlicht, wird überrascht, in welcher großen Horde sie einstmals in das Land zogen, das sie sich als Heimat auserwählt hatten. Die grünen Wiesen und Wälder zogen sie aus ihrer früheren Wüstenheimat in unsere Breiten. Ihr Zug nach Westen erstreckte sich über fast einen Kilometer von ihrem Anführer bis zum letzten Nachzügler und glich einem sich bewegenden Ameisenhaufen. Überall wuselten die kleinen Gesellen, schwatzend und streitend. Die Motivation, die sie sich selbst einredeten, den langen Marsch anzutreten, bestand in dem Umstand, dass sie die anderen Völker, die sich in ihrer alten Heimat neben ihnen niedergelassen hatten, noch mehr verabscheuten, als ihre eigene Gesellschaft. Vieler dieser Völker machten sich später ebenfalls auf den Weg, sodass die Kobolde sich nicht einmal in einem vermeintlichen Paradis sicher sein konnten – aber das lag noch in weiter Zukunft, die zur Zeit der Wanderung noch vielversprechend erschien. Ein Tag vor dem Aufbruch lag Drak schlaflos in seinem Zelt. Die Zweifel an seinem Plan raubten ihm die Ruhe. Die merkwürdigen Völker, die jetzt aus allen Richtungen in sein Land kamen, ließ keine andere Option als Flucht. Sie hatten viel zu lange gewartet, bis sie keine andere Chance mehr hatten. In ihren Zelten an den wenigen Oasen würde es sehr bald von Fremden wimmeln. Er hatte nichts gegen sie, jedoch wollte er auch nichts mit ihnen zu tun haben. Die erste und einzige Zusammenkunft ihrer Art fand irgendwo hier in der Nähe statt. Drak erzählte mir von dem Treffen und er meinte, dass er sich sein Leben lang nie weit von der Stelle entfernt hätte. Jedoch sind seine Aussagen immer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Er behauptete auch, dass er damals der König seines Volks gewesen war – ein Umstand, der sich schwerlich nachweisen und ehrlich bezweifeln lässt. Er erzählte mir die Geschichte wie folgt: Als wir in das Gebiet kamen, dass die Menschen heute Ruhrgebiet nennen, ließen wir uns auf einem Feld mit einer Erhöhung nieder. Ich hatte diesen Bereich gewählt, weil er mir die perfekte Gelegenheit gab, zu meinem Volk zu sprechen. Die Menge der Anwesenden füllte den Platz, bis alle voller kleiner schwarzen Punkte wimmelte, die nicht zur Ruhe kommen wollte. Von hinten drängelten ein paar Großere nach vorne, während sich die Kleineren lauthals über die miese Behandlung beschwerten. An mehreren Stellen wurde sich über den Umstand beschwert, dass es so eng war, dass man sich gegenseitig auf den Füßen stand. In dem Moment, in dem ich die Horde betrachtete, wurde mir schlagartig klar, welchen riesigen Fehler ich gemacht hatte. So viele meiner Art waren noch nie gleichzeitig an einem Ort gewesen und sollten es auch nie sein. Ich hatte nicht realisiert, wie viele meiner Art sich an dem Zug beteiligt hatte. Eigentlich wollte ich nur mit meinen engsten Freunden in die Fremde ziehen – doch die Lawine, die ich dadurch auslöste, war selbst für mich nicht absehbar. Anscheinend hatte ich den Nerv einer gesamten Generation getroffen. Das Pulverfass, dass sich vor mir ausbreitet, schien jederzeit unter der Hitze der Gespräche explodieren zu können und es war nur eine Frage der Zeit, bis das passierte. Der Wunsch, die Meute zum Schweigen zu bringen, war eher fromm als realistisch. Drak erhob seine Arme, in der Hoffnung, irgendeinen Eindruck zu erzeugen, auch wenn die Geste bei vielen seiner Freunde eher verzweifelt wirkte. Er schrie. Seine Stimme überschlug sich. Trotzdem drehte sich niemand zu ihm um. In diesem Augenblick wusste er, dass es keinen Zweck mehr hatte, die Katastrophe aufzuhalten, die sich vor seinen Augen langsam ausbreitete. An den Rändern der Menge brachen die ersten Schlägereien aus. Fäuste flogen. Schreie gellten durch die Luft, überschlugen sich und wurden voneinander übertönt. Ein letztes Mal schrie er jegliche Luft aus seinen Lungen. Die Panik von der Masse erdrückt zu werden, stieg in ihm hoch. Zu mir sagte er, dass er in seinem gesamten Leben nicht noch einmal solch eine Angst gespürt hatte. Nicht einmal als man ein Haus ansteckte, in dem man ihn eingeschlossen hatte. Kobolde macht Feuer nicht viel aus. Zerquetscht zu werden, war allerdings ein ganz anderes Problem. Er schwor mir, den Alten Großen Knochenlosen zwischen den Bäumen zu sehen. Das grässliche Wesen blinzelte ihm zu. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht.

Powered by BetterDocs

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.