Vor der Erfindung von Häusern trugen die Kobolde noch andere, heute vergessene Namen. Ihr heutiger Namen setzt sich wahrscheinlich aus dem Wort “Kobe”, was soviel wie kleines Haus oder Schuppen bedeutet und dem Wort “Hold”, was für fürsorglich oder besser “gegenüber etwas freundlich eingestellt”, zusammen. Die kleinen Kerle wurden damals also als ein gerngesehener Hausgast betrachtet, obwohl dieser Umstand bei ihrer Faulheit und dem Hang zum Schabernack sicherlich komisch anmutet. Der Grund, weshalb die Spitzohre allerdings von ihren Höhlen und Baumnestern in Häuser umzogen, erklärte mir mein freundlicher Kobold wie folgt. Drak hatte das Leben in der dunklen Höhle, in der er sich über fast ein Jahrtausend aufgehalten hatte, satt. Die Menschen mittlerweile in kleinen Holzhütten und die Reichen fingen mit dem Bau von größeren Burgen an. Drak machte sich nicht viel aus Holzhäusern. Sie waren sicherlich in vielen Punkten bequemer als seine Höhle, jedoch hatten sie den negativen Beigeschmack, dass man sich höchsten 90 Jahre auf die Dinger verlassen konnte, wenn sie nicht schon vorher abbrannten. Da halfen die netten Fenster und die Wärme, die sich in solchen Häusern besser sammeln lässt als Vorteile auch nicht. Drak wollte einfach nicht in einem toten Wald leben. Die Burgen hingegen zogen ihn an, zumal er sich als selbsterklärter König sowieso nach einer standesgemäßen Behausung umsah. Also packte er seine Sachen, um sich eine nette Burg in der Nähe zu suchen. Letztendlich standen genug von ihnen herum, da es gerade modisch war, alle paar Meter eine eigene Burg zu bauen. Schnell erkannte er, dass die oberen Zimmer viel zu hell für ihn waren. Letztendlich brauchte er seine Ruhe und wollte nicht dauernd von Vogelgezwischer oder nervenden Sonnenstrahlen geweckt werden. Dazu hatte er sowieso eine Vorliebe für die Nacht. Er achtete darauf, dass es im Gesindel genug fromme Damen gab, die sich an die Sitten erinnerten, einen Kobold ein paar Lebensmittel darzureichen, um sein Wohlwollen zu erlangen. Das hatte zwar den Nachteil, dass er sich für wenig Brot und Milch erkenntlich zeigen musste – was natürlich gegen seine Überzeugungen ging, denn Arbeit lag ihm nicht – dafür hatte er allerdings immer etwas im Magen. Die Vorteile überwogen definitiv den Nachteilen und die Wahl seiner Burg war schnell getroffen. Nur hier in Wittringen stand eine Burg, die sowohl viele Kellergeschosse, wie auch älteres Gesindel hatte. Um nicht andauernd gestört zu werden, trennte er einen Teil des Lagerkellers mit einer Wand ab und machte es dahinter gemütlich. Sein Raum hatte damit sogar noch den Vorteil, dass er jederzeit an Bier und Fleisch kommen konnte. So lebte er einige Jahre in seinem Raum, bis eines Abends ein altes Waschweib in das Lager kam. Ihr Rücken war gebeugt, wie auch ihr Blick. Die Kleidung hing schlaff über ihre abgemagerte Person. Sie hielt eine Schale Milch und ein Keks in den Händen und stand verloren zwischen zwei großen Fässern, in denen Bier auf Drak wartete. Die alte Frau sprach mit fester Stimme: “König der Kobolde, ich bitte um Deine Hilfe. Ich weiß, dass Du das normalerweise nicht machst, aber vielleicht machst Du für mich eine Ausnahme.“ Der Herrscher aller kleinen Männchen rollte mit den Augen. Die Neugier, was diese alte Frau von ihm wollte und was sie ihm dafür bezahlte, brannte jedoch in seiner Seele, sodass er wenig später sagte: “Was wollt ihr Mütterchen?” Die Alte schrack zusammen und hätte fast die Milch verschüttet. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass sich jemand melden würde. Ob sie jetzt darüber erfreut oder verängstig war, konnte Drak nicht erkennen. Mit stockender Stimme sagte die Frau: “Meine Tochter liegt im Wochenbett. Der Knabe, der ihr geboren wurde, hat ihr sämtliche Energie geraubt. Sie kämpft mit dem Tod und wird ihn bald erliegen, wenn kein Wunder geschieht. Ich gebe Dir, was immer Du willst, aber rette sie. Ich bin zu alt um mich um das Kind zu kümmern. Du bist ein magisches Wesen. Du kannst uns helfen.” “Der Tod ist ein guter Freund, wenn auch ein launischer. Ich werde schauen, ob er mit sich reden lässt. Wenn es mir gelingen sollte, so fordere ich von Dir und Deiner Familie irgendwann einen Gefallen zur richtigen Stunde. Verweigert ihr mir den, wird mein Freund der Tod euch alle gleichzeitig holen.” Die Frau schrak zusammen. Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihre Stimme wurde noch zögernder. Leise sagte sie “Ja.” Drak war das etwas zu wenig. Er sagte: “Du musste es schwören. Schwöre auf das Leben Deines Enkeln, dass Du mir einen Gefallen schuldest und ihn mir bezahlen wirst, wenn die Zeit dazu gekommen ist.” Die Alte schwor es ihm. Bald danach verschwand sie. Am nächsten Morgen besuchte Drak die Tochter, die mit Fieber auf ihrem Lager lag. Er erblickte auch die schwarz gekleidete Figur, die sich im Hintergrund des Zimmers aufhielt. Mit festen Schritt ging er zu dem Dunklen und sagte: “Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.” Wie immer strahlte der Tod keinerlei Fröhlichkeit aus, was ihn aus Sicht der Kobolde nicht zum idealen Partygast werden ließ, obwohl er immer eine gute Geschichte auf Lager hatte. In seiner Gegenwart fühlte man sich niedergeschlagen. Zumindest fühlte man sich so, wenn man nicht genug Zynismus besaß. Der Dunkle brummte: “Ich habe keine Zeit, mit Dir über das Wetter zu plaudern. Schließlich bin ich geschäftlich hier.” “Du kommst ziemlich schnell zur Sache.” “Manch ein Mensch hat sich schon über das Gegenteil beschwert, besonders wenn er zuvor lange gelitten hatte.” “Ich wollte nur fragen, ob Du bei der Frau evtl. ein Auge zudrücken könntest.” “Es wäre reichlich unüblich, wenn ich sowas machte. Warum sollte ich das tun?” “Vielleicht aus Großzügigkeit? Oder lass es einfach Vergesslichkeit sein. Du vergisst die Dame einfach für ein paar Jahre. Es gibt ja genug von ihnen.” “Die Hebamme die bei der Geburt geholfen hat, brachte schon fünf weitere Frauen auf meine Liste. Wie es aussieht wird sie auch noch für 40 andere das Ende bedeuten.” “Hol Dir doch einfach sofort die Hebamme, dann hast Du erst mal Ruhe.” “Die stirbt aber erst im hohen Alter.” “Das Leben ist aber auch nicht fair.” “Es ist merkwürdig, dass Du das ansprichst. Ich habe die letzten fünf Poker-Partien gegen ihn verloren. Vielleicht sollte ich tatsächlich nachsehen, ob das Leben schummelt.” Der Kobold trommelte nervös auf dem Türrahmen. “Was ist denn jetzt? Lässt Du die weiterleben?”, fragte er und nickte mit seinem Kopf in Richtung der Frau. Der Tod griff in seine Tasche, die er unter seiner schwarzen Kutte trug. Er holte eine brennende Kerze heraus, die er dem Kobold vor das Gesicht hielt. Er sagte: “Schau, die ist fast leer.” “Kannst Du mir mal die von der Hebamme zeigen?”, fragte Drak darauf. Der Tod kramte erneut in seiner Tasche, wie es mehrere tausend Jahre später einige Frauen mit ihren Taschen zu tun pflegen. Nach einer unendlich wirkenden Zeit zog er eine weitere, im Vergleich zur andern, riesige, brennende Kerze heraus. Drak entriss Tod einfach die längere Kerze, löschte sie aus, entzündete sie neu an der kleinen und steckte sie auf den kleinen Stumpf. „Siehst Du? Jetzt hast Du zwei Probleme auf einen Streich erschlagen. Das ist doch gar nicht so schlecht für den Anfang.“ Der Tod sah ihn mit leeren Augen an, was wahrscheinlich auch an seinen inhaltslosen Augenhöhlen lag. Nach einer Weile zuckte er mit den Achsen und brummte: „Jetzt komm ich zu spät zur Hebamme. Es war wie immer ein Vergnügen Dich zu treffen. Irgendwie gefällt mir Deine Art.“ Mit den Worten löste er sich in Luft auf. Drak klatschte in die Hände. Die vormals Sterbende öffnete die Augen. Sie blickte verwundert in das Gesicht des kleinen Wesens, welches grinsend vor dem Bett wartete. Es zwinkerte ihr zu und sprach: „Denk daran, ich habe einen Wunsch offen, den ihr mir erfüllen müsst.“ Dann verschwand er aus dem Zimmer. Der Gefallen sprach sich herum. Bald war der weite Keller ein Wallfahrtsort für Jedermann, der einen Wunsch offen hatte. Da Menschen zur Unzufriedenheit neigen, hatte Drak keine Nacht mehr seine Ruhe, was ihn unruhig werden ließ. Zwar mochte er die Geschenke, die man ihm brachte und ihm gefiel die Anerkennung, die er erhielt, jedoch war ihm sein ruhiges Leben noch viel wertvoller. Deshalb fasste er den Entschluss, diese merkwürdige Scharade schnellst möglich zu beenden. Leider erwies sich das als weit schwieriger als er dachte. Hatte er früher auch nur sehr wenige Wünsche von Menschen die ihm angenehm, mit Wünschen die erfüllbar waren, erfüllt, so hörte er sich zum Schluss keinen Wunsch mehr an. Leider blieb die abschreckend Wirkung aus. Viele Menschen wurden allein durch ihren Glauben an die Hilfe des Kobolds geholfen, so wie auch manches Hausmittel allein durch den Glauben daran hilft. Sein Wirken wurde bald über alle Landesgrenzen gerühmt, bis seine Taten auch auf andere Kobolde übertragen wurden. So erhielt die Art der kleinen Männer ihren Namen, unter dem sie bis heute bekannt sind. Drak dachte in seiner Verzweiflung daran, dass jetzt vielleicht ihm nur noch der Gefallen retten konnte. Er dachte lange darüber nach, was er fordern könnte, was man ihm nur mit schwerem Herzen oder gar nicht erfüllen würde. Aus diesem Grund erschien er eines Nachts der Familie und teilte ihnen mit, was er sich ausgedacht hatte. „Gebt mir den Knaben, dessen Mutter ich vor Jahren gerettet habe. Das soll der Gefallen sein, den ich jetzt von euch fordere.“ Was er nicht ahnte war, dass der Junge sich unvorteilhaft zu einem wahren Störenfried entwickelt hatte. Man gan ihm den Jungen mit Freuden noch in der gleichen Nacht und pries den Kobold für seine erneute Hilfe. So kam Drak an seinen ersten und einzigen Gesellen. Aber das ist eine andere Geschichte. Der Kobold von Wittringen wurde hingegen noch Jahrhunderte für seine Großzügigkeit gerühmt. Tief unter dem heutigen Schloss liegt immer noch das alte Lager der Burg und in ihm die alten Schätze des Kobolds, die ihm Menschen in der Hoffnung, dass er ihre Wünsche erfüllte, brachten.