An einem späten Abend im Winter klangen Klagelaute vom Brunnen vor der Duisburger Bibliothek zur Kammer von Telchin herauf. Der Kobold richtete sich neugierig auf und hörte, was dort in der Dunkelheit so eindringlich heulte, sodass er keine nötige Ruhe für das Studium seiner Bücher hatte. Das Weinen und Stöhnen wollte jedoch nicht aufhören. Nach einigen Stunden, in der der Kobold nur zuhörte, beschloss er, sich der Sache anzunehmen, um die Ruhe endlich wieder einkehren zu lassen. Am Brunnen saß ein Mädchen, vielleicht um die 20 Jahre alt. Dicke Tränen benetzten ihre Augen. Immer wieder schluchzend und die Augen reibend, nahm sie das kleine Wesen, welches sich jetzt aus einem Kellerfenster auf die Straße quetschte, gar nicht wahr, so sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Erst als Telchin direkt vor ihr stand, fuhr sie erschreckt zusammen. Mit großen Augen betrachtete sie das kleine Männchen mit den spitzen Ohren, welches sich mit einer kurzen Verbeugung vorstellte. Geschwollen, da er über Jahrzehnte die Sprache lediglich aus Büchern wahrnahm, sagte der Gelehrte: “Welches Begehren hat die Dame?” Das Mädchen blinzelte die Tränen fort. “Ich werde von keinem auf der Welt gemocht. Sowohl der Dekan, wie auch die anderen Mägte blicken zu mir herab und ich erhalte keine Zuneigung, sondern nur Ablehnung.” Der Kobold hörte ihre Worte. Auch wenn es nicht in seiner Art lag, erweichten ihre Worte sein Herz. Er sprach: “Wie kommt es dazu?” “Alle sagen, ich wäre faul und hässlich. Die Hausherrin selbst schlug mir heute ins Gesicht. Das gesamte andere Gesindel hat dabei gestanden und gelacht. Ich finde keine Fröhlichkeit mehr im Leben.” Das Männchen hingegen dachte nur bei sich selbst: “Sollte sie sich in den Brunnen werfen, würde sie die gesamte Universität vergiften und obwohl ich vielen Studenten dieses Ende sehrwohl gönne, wäre ein frühzeitiges Ableben einiger Individuen der Professurenschaft doch ein harter Schlag sowohl für mich, wie auch für die Welt. Außerdem weiß niemand, ob die Universität noch benutzt wird, sollte es ersteinmal zu so einem Vorfall kommen. Es wäre besser, man hielte das Mädchen von ihrer Dummheit ab.” Deshalb sprach er: “Es kann gar nicht sein, dass Niemand Dir Zuneigung schenkt. Was ist mit Deinen Eltern und Geschwistern?” Neuerlich schluchzend sprach das Mädchen: “Meine Eltern haben mich vor Jahren verlassen und meine Geschwister pflegen keinen Umgang mit mir.” “Wie kam das?” “Meine Schwester hat vor ein paar Jahren einen reichen Studenten kennengelernt. Ich sagte ihr, dass der Herr weit über ihrem ihrem Stand wäre und bat sie inständig die Beziehung, die sie zu ihm unterhielt, abzubrechen. Immer wieder störte ich die Zusammentreffen der beiden Liebestollen, bis ich es tatsächlich schaffte, sie zu trennen. Eines Abend wollte sie sogar Nachts zu ihm, doch ich sperrte sie in ihrer Kammer ein, um Schlimmeres zu verhindern. Zum Glück konnte ich die Ehre meiner Schwester retten, jedoch brach meine Schwester danach jeglichen Kontakt mit mir ab. Ich weiß noch nicht einmal, wohin es sie jetzt gezogen hat. Mein Bruder auf der anderen Seite sitzt im Gefängnis, während er auf seine Hinrichtung wartet.” Techlin zog eine Augenbraue hoch. “Wie kam das?” “Ich sagte ihm, dass ich seiner Frau nicht trauen würde. Sie schlich sich nachts vor die Tür. Da ich in der benachbarten Kammer übernachtete, hörte ich ihre Schritte jede Nach und wunderte mich darüber, was sie trieb. Natürlich konnte ich ihr kein Vergehen nachweisen, dafür war sie viel zu schlau. Aber das Gefühl, dass sie meinen Bruder ins Elend zog, wuchs in mir über die Jahre. Ich war mir sicher, dass sie jeden Abend einen Geliebten traf. Davon erzählte ich meinem Bruder. Zunächst wollte er mir nicht glauben. Ich sprach so lange auf ihn ein, bis er mir an den Lippen hing. Deshalb tat er eines Nachts so, als würde er schlafen und schnarchte, so wie er es sonst immer machte. Als die Dirne, die sich meine Schwägerin nannte, glaubte, dass ihr Ehemann tief ruhte, stand sie auf, streifte die Schuhe an und verschwand aus der Kammer. Mein Bruder folgte ihr. Ich weiß nicht genau, was darauf passierte, da ich beobachtend liegen blieb. Letztendlich muss es auf der Treppe zu einem Streit gekommen sein. Die Schwägerin stürzte die Treppe hinab und schlug sich den Kopf auf. Noch in der Nacht wurde ihre Leiche und mein Bruder in Ketten abgeholt.” Techlin kannte die beiden Fälle, da sie sich an seiner Universität ereigneten. Er biss die Zähne zusammen. Der Student und die Kammerfrau waren ihm sehr bekannt, da sie ein großes Aufsehen an der Universität hinterlassen hatten. Der Student hatte den Kaplan mitten in der Nacht zu einer Trauung überredet. Die Liebenden wollten sich um Mitternacht bei einem geheimen Treffen von ihm in den Stand der Eher führen lassen. Aus Freundschaft zum Studenten willigte der Kaplan, der Techlin aus vielen Situationen als ein sehr angenehmer Forscher in Erinnerung war, ein, die Zeremonie durchzuführen. Tatsächlich fehlte in dieser Nacht nur die Frau, die anscheinend von ihrer eigenen Schwester aufgehalten wurde. Durch das Nichterscheinen verärgert, schwor der Kaplan nie wieder solche Dummheiten durchzuführen. Ob der Ärger zu dem Herzversagen führte, das ihn ein paar Tage später ereilte, konnte nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Dass es allerdings eine Mitschuld hatte, spielte hier gewisslich eine Rolle. Auch die zweite Geschichte war Techlin wohl bekannt. Die Frau des Kammerdieners war eine, die die alten Gebräuche noch bekannt war. Jede Nacht um ein Uhr stellte sie dem Kobold der Universität eine Schale Milch und ein wenig Brot vor die Tür, die er genüsslich verspeiste. An dem Abend in dem die gute Frau ihr Ende fand, hatte er von dem Streit mitbekommen. Der Kammerdiener war so sicher, dass ihm seine Frau Hörner aufgesetzt hatte, dass er ihrer Beschwichtigung nicht lauschte. In dem kleinen weisen Wesen kochte Wut auf, die er nur schwer unter Kontrolle bringen konnte. Den Ärger hinabwürgend sagte er: “Wie habt ihr die Frau des Dekans verärgert?” “Sie mag mich nicht, seitdem ich ihre hässliche Diele neu eingerichtet habe.” Techlin wurde schwindelig. Der Eingang der Wohnung des Dekans war mit wunderschönen antiken Gegenständen geschmückt, die geschmackvoll und dekorativ standen und den Eindruck von alt Ehrwürdigem vermittelten. Vor ein paar Wochen war all die schönen Dinge verschwunden und durch billigen und bunten Kitsch ersetzt worden. Der Kobold wäre beinahe das Herz stehen geblieben, als er diesen Frevel am Geschmack und guten Sitten bemerkt hatte. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Das Mädchen am Brunnen redete unterdessen weiter: “Diese hässlichen trostlose Büsten, die nichts mehr machten, als Staub zu schlucken, mussten endlich entsorgt werden. Deshalb habe ich in einer Nacht alles rausgeschafft und durch schöne neue Dinge ersetzt. Gedankt hat mir allerdings niemand. Genauso wie mir der Dekan nicht dankte, als ich seine alte Pfeife durch eine Neue tauschte.” “Ich sehe schon, dass Du Dir sämtliche Abneigung, die Dich trifft, sehr hart erarbeitet hast.”, sagte der Kobold sauer. “Habe ich jetzt zwei Wünsche frei? Oder gibst Du mir irgendetwas von Deinem Schatz?”, fragte das Mädchen mit leuchtenden großen Augen. “Ich bin ein Kobold und keine Fee.”, sagte Techlin und stupste sie über den Rand des Brunnens. Er würde morgen dem Dekan ein Notiz hinterlassen, damit man den Leichnam möglichst schnell fand und es zu keiner Katastrophe kam. Schließlich wollte er, dass dieses Wesen nicht auch mit ihrem Tod, andere ins Elend stürzen würde. Da Kobolde in der Regel nicht vom Glück verfolgt werden, starb die junge Frau nicht durch den Sturz, was dazu führte, dass in der gesamten Nacht keine Ruhe einkehrte, bis man sie endlich aus dem Brunnen entfernte. Sie erzählte ihre Geschichte vom hinterlistigen Kobold, der ihr nach dem Leben trachtete. Der Brunnen trug noch über 100 Jahre den Namen „Kobold-Brunnen“, wobei sich bemerkenswerterweise die Geschichte nicht weitergetragen wurde. Anstatt dessen wurde gesagt, dass man nur den Namen einer gehassten Person zur Mittagsnacht hinabschreien müsste, damit sich ein Kobold dem Problem annehmen würde. Dies ging so lange, bis der Brunnen am Ende des 17ten Jahrhundert einem Anbau der Bibliothek weichen musste. Telchin war das nur recht.

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