Als Michael die Tür öffnete, saß seine Familie schon wartend auf ihren Plätzen. Ein eisiger Wind fegte in die Küche, bis hin zum Esstisch.
Es war, als wäre noch etwas Anderes ins Zimmer gekommen. Ein kleines schwarzes Geschöpf schwebte neben Michael in der Luft.
Tom erbleichte, als er die Fee erkannte. Eine kalte Hand legte sich von hinten um seinen Hals.
Das kleine Geschöpf war von unten bis oben mit Ruß bedeckt. Ihre Augen blitzten in einem rabenschwarzen Gesicht. Über ihren Haaren erhob sich eine winzige Rauchwolke. Ihre Mine war ungefähr so freudestrahlend wie die eines ausgehungerten Tigers kurz vor dem Sprung auf die Beute. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie Tom an. Dann streckte sie ihren Zeigefinger zunächst in seine Richtung und ließ ihn anschließend in Zeitlupe über ihre kleine Kehle fahren.
Tom zuckte unwillkürlich zusammen.
Nikol bemerkte das. Mit einem strafenden Unterton sagte sie: „Schatz, lass doch bitte die Tür nicht hinter dir aufstehen. Wir sind noch nicht richtig angezogen und es zieht.“
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Wolltest Du Dich nicht duschen?“
„Wir hatten nur noch kaltes Wasser.“
Der Hinweis auf die Zivilisation war anscheinend doch nicht ganz durchdacht gewesen. Dies hier war die Wildnis. Eins dieser wilden Geschöpfe schwebte immer näher auf Tom zu.
Er konnte ihre Stimme von weitem hören.
„Ich hab es durch den Schornstein versucht. Weißt Du eigentlich, wie verdammt dreckig das Scheißteil ist?“
„Das war doch klar.“, sagte Tom.
Michael blickte Tom überrascht an. Er verzog für einen Moment sein Gesicht und sagte dann: „Das ist kein Problem. Man muss nur den Boiler anmachen. Nach zehn oder zwanzig Minuten hat man dann genug warmes Wasser. Ich hätte nur vorher daran denken müssen.“
Die Fee war auf dem Tisch, direkt neben Toms Teller gelandet. Mit einer Hand griff sie in die Tasse mit dem heißen Tee und schüttete sich ein paar Tropfen über ihr Gesicht. Unter dem Dreck konnte Tom jetzt die blasse Haut erkennen.
„Ich hatte Dir doch gesagt, dass wir in der Zivilisation sind. Wir können den Boiler anlassen, wenn Du dich auch gerne duschen möchtest.“, sagte Nikol.
Irritiert sah Tom zu seiner Mutter. Für einen Moment musste er sich sammeln. Immer wieder starrte er auf seinen Teller und anschließend in Nikols Gesicht.
Dann sagte er: „Das wäre toll. Ich könnte eine warme Dusche gebrauchen.“
Die Fee sah zu Tom herauf. „So wie du stinkst, würde das bisschen Wasser aus dem Boiler sicherlich auch nichts bringen.
Du solltest Dich lieber für mehrere Stunden in einer Waschmaschine einweichen lassen. Selbst dann wäre ich nicht sicher, ob das irgendetwas bringen würde.“
Kaum hatte sie dies gesagt, schaufelte sie sich Rührei von ihrer Handfläche in den Mund. Dabei hinterließ sie kleine schwarze Fingerabdrücke im Essen.
Tom ergriff seine Gabel.
Für einen Augenblick dachte er darüber nach, ob es gesetzlich verboten war, eine Fee aufzuspießen und anschließend einfach unter den Tisch fallen zu lassen.
Die Fee blickte zu ihm hinauf und streckte ihm ihren Mittelfinger entgegen. Dann griff sie nach dem Speck. Sie brach sich ein großes Stück ab, welches anschließend in ihrem Mund verschwand.
Keinen Moment später spuckte sie den Inhalt ihres Munds wieder zurück auf den Teller.
„Was ist denn das für ein Dreck? Das Zeug schmeckt ja wie der Arsch eines Stinktiers.“
„Das ist vegetarischer Speck.“
Nikol beugte sich vor. Mit einer fragenden Stimme sagte sie: „Das isst Du doch zu Hause auch immer so. Willst Du heute lieber Porridge?“
„Welcher hirnverdrehte Schwachmat kommt auf die Idee, vegetarischen Speck mit Rührei zu fressen? Ist es etwa OK die ungeborenen Nachkommen eines Tiers zu essen, während man das ausgewachsene andere Tier schont?“
Tom schüttelte den Kopf. „Ich esse gerne vegetarischen Speck. Das ist viel gesünder als die tierische Variante.“
Michael klatschte in die Hand. Bestätigend sagte Nikol: „Das wissen wir doch. Deshalb haben wir den extra aus Deutschland mitgebracht.“
„In eurem Land scheint der Wahnsinn tatsächlich höchst verbreitet zu sein. Leben da nur Idioten?“
„Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung hier so ein Essen zu schätzen weiß.“, sagte Tom etwas zu laut.
Michael schmatze laut, schluckte und sagte: „Die Leute hier leben auch nicht hinter dem Mond. Vielleicht haben sie einen komischen Dialekt, aber sie sind keine Neandertaler.“
„Ich kann sie trotzdem verstehen.“, sagte Tom nachdenklich.
Die Fee schaute zu ihm hoch und winkte ihm mit beiden Händen zu. „Eh Schwachmat! Ich spreche die Feen-Sprache. Die versteht jeder, unabhängig von seinen geistigen Fähigkeiten.“
Nikol schien zu bemerken, dass Tom versteinert vor seinem Teller saß. „Du isst ja gar nichts. Was ist denn los?“
„Mir ist gerade ein Insekt ins Essen geflogen. Das Vieh ist absolut eklig und mir ist der Appetit vergangen.“
Michael lachte auf. „So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein. Du futterst doch sonst immer wie ein Mähdrescher.“
„Die Insekten hier sind furchtbar.“
Die Fee schaufelte sich eine weitere Handfläche Rührei in den Mund.
Ohne zu Schlucken sagte sie: „Die bestialisch stinkenden Misthaufen aus einem fremden Land halten mich jedenfalls nicht vom Essen ab.“
Während sie das sagte, flogen ihr Essenreste aus dem Mund und verteilten sich auf dem gesamten Tisch.
Nikol wandte blitzschnell ihren Blick auf Toms Teller. „Es scheint mir, als hätte ich gerade auch etwas gesehen. Ist das Tier immer noch da?“
Mit einem Schnauben legte Tom die Gabel zurück und griff sich einen Toast. „Ich glaub, ich esse heute nur eine Scheibe verbranntes Brot.“
Die Fee schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du solltest das Rührei probieren. Es ist gar nicht so schlecht. Diesen warmen pflanzlichen Scheiß kannst Du allerdings behalten.“
Tom biss ein großes Stück von seinem Toast ab. Er kaute ohne Spaß auf dem harten und mittlerweile kalten Brot herum.
„Wir werden uns heute ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen. Dazu werden wir zur nördlichsten Spitze der Insel fahren.“
Michael schaute ihn fragend an.
Tom zuckte lustlos mit den Schultern. „Von mir aus.“
„Es wird Dir bestimmt gefallen. Oder gehe Dir die ganzen Autofahrten mittlerweile auf die Nerven?“
„Hat Dir schon mal jemand gesagt, dass Deine Alten ziemlich penetrant sind? Kein Wunder, dass Sie Dir so sehr auf den Sack gehen.“
„Sie gehen mir nicht auf den Sack.“, entfuhr es Tom.
„Wir können auch viele Pausen einlegen. Die Landschaft ist überwältigend.“, sagte Michael abwehrend.
Tom antwortete: „Solange wir so weit wie möglich von diesem Platz wegkommen, ist mir alles recht.“
Die Fee sah Tom säuerlich an. Dann streckte sie ihm die Zunge heraus.
Er ergriff die Servierte, die neben dem Teller gelegen hatte. Kurz fuhr er sich mit ihr über den Mund, zerknüllte sie und schmiss das Stück Papier abschließend, so fest er konnte, auf die Fee.
Für eine Sekunde dachte er darüber nach, mit seiner Faust auf die Beule zu schlagen, die sich unterhalb der Servierte abzeichnete, doch bevor er sich entscheiden konnte, befreite sich das kleine Wesen mühsam strampelnd von ihrem Umhang. Sie strahlte ihn an und erhob einen Daumen.
„Danke für das Tuch. Ich wollte mich sowieso etwas reinigen. Endlich denkst Du mal mit. Hatte schon befürchtet, dass Du das nicht kannst.“
Mit einem Ruck stand Tom vom Tisch auf.
Seine Eltern Michael und Nikol sahen ihn fragend an.
„Ich hole mir noch etwas Wasser. Vielleicht finde ich im Kühlschrank auch noch eine Kleinigkeit zum Essen, in dem keine Insekten ihr Unwesen treiben.“
Nikol erhob sich ebenfalls. Sie zog Toms Teller an sich. „Also ich sehe hier keine Käfer. Was auch immer Du gesehen hast, ist weg.“
Nachdenklich betrachtete sie die Speisereste. „Ich kann hier Spuren sehen. Anscheinend hast Du Dir das Insekt nicht nur eingebildet. Sieht so aus, als wäre der Käfer ziemlich dreckig gewesen.“
Vom Kühlschrank her, über seine Schulter gewandt, sagte Tom: „Nicht nur dreckig. Sie ist auch das Nervigste, was ich jemals gesehen habe.“
Dann wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass seine Eltern die Fee zwar weder hören noch sehen konnten, sie anscheinend allerdings doch vorhanden sein musste. Sie hatte Spuren hinterlassen.
Er drehte sich um.
Nikol hielt seine Servierte hoch. In ihr konnte man noch mehr schwarze Spuren erkennen.
„Du hast Dir vor dem Essen nicht die Hände gewaschen?“ Die Stimme hatte einen schneidenden Unterton.
Die Fee schwebte jetzt unmittelbar in der Höhe des Kopfs seiner Mutter.
Sie lachte hell auf. „Du Ferkel hast auch überhaupt keine Tischmanieren. Bald lassen Dich Deine Eltern mit den Schweinen speisen.“
Tom zeigte in Richtung Fee. „Der Käfer ist immer noch da. Mit so einem Tier im Zimmer bekomme ich keinen Bissen herunter.“
Mit schnellem Schritt stapfte er aus der Küche. In Eile zog er die Tür hinter sich zu.