Boris setzte sich beim Abendessen, trotz der klaren Anordnung, zu mir an den Tisch. Heiko saß ihm zur Seite. Unsere verschreckte Schildkröte schaute nicht zu uns, als wir uns niederließen. Es war, als hätte er einen Fleck auf seinem Teller entdeckt, den er nur mit Geisteskraft wegzaubern wollte.
Kalt lächelnd sagte Boris zu ihm: »Weißt Du zufällig, wo ich eine alte Schere finde?«
Der Angesprochene zuckte zusammen. Er sprang auf und eilte zum Tisch der Heimleitung.
Boris lehnte sich zu mir hinüber. »Jetzt wissen wir, wer uns verraten hat.«
Ich blickte ihn fragend an. Eine Idee, von wem er sprach, hatte ich nicht.
»Ich habe ihm gestern Nacht gedroht, dass ich seinen Schwanz abschneide, wenn er uns verpetz hat. Dazu würde ich die stumpfeste Schere nehmen, die ich finden könnte. Er blieb so ruhig liegen, dass ich meinte, er würde schlafen.
Er zuckte mit den Achseln. »Jetzt hat er sich verraten.«
Heiko stand hinter Herr Berkowitz und deute in unsere Richtung. Dabei schien er den Tränen nah.
Der Heimleiter erhob sich. Ein wenig später stand er bei uns.
»Ich hatte doch gesagt, dass ihr euch nicht zusammen an einen Tisch setzen solltet. War das so schwer zu verstehen?«
Boris stand auf und trottete zu einem anderen Platz. Die Mine des Leiters war nicht schwer zu deuten. Es war kurz vor der Explosion. Schnell wendete er sich ab. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass Dampf aus seinen Ohren kam.
Heiko setzte sich erneut.
Mir war der Appetit vergangen. Obwohl es Griesbrei gab, war mir neben dem Verräter unwohl. Jesus mag beim letzten Abendmahl anders gedacht haben, ich jedoch bevorzugte Freunde in meiner Nähe.
Heiko flüsterte: »Ich musste es doch sagen. Er ist mein Patenonkel.«
Meine Augen weiteten sich. »Dieses Monster ist dein Onkel?«
Mir wurde schwindelig. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. In dieser Gemeinschaft war fast jeder mit jedem verwandt. Wenn man nur eine begrenzte Anzahl von Partnern hat, blieb das nicht aus.
Bei konservativen, evangelikalen Christen läuft ähnlich wie bei einer Inselbevölkerung. Man lernt sich auf einer Freizeit wie diese kennen, es folgt das Verliebtsein, besucht die Gemeinde des Anderen, kaum hat man sich versehen, ist man verheiratet.
Da Scheidung für die Frommen nicht in Frage kommt, bleibt man sein Leben lang bei seinem Ehepartner. Die Kinder lernen andere Kinder in Freizeiten kennen und der Kreis des Lebens schließt sich.
Ich schaute zu Julia hinüber. Mit ganzem Herzen hoffte ich, dass ihre Eltern nicht teil dieser Bewegung waren oder erst später dazugekommen sind.
Heiko sagte: »Ich wollte euch nicht verraten.«
»Das hat Judas sicherlich auch gesagt. Bezeichnenderweise war es auch an einem Donnerstag, als er den Verrat begann und sich anschließend erhängte.«
»Du willst, dass ich Selbstmord begehe?«
»Ach mach doch, was Du willst. Am Liebsten wäre mir, wenn Boris seine Drohung wahr machen würde. Du hättest es nicht anders verdient.«
»Aber er ist mein Onkel.«
»Würde ich nicht beim Tischdienst helfen, würde ich jetzt aufstehen und gehen. Es schmeckt mir einfach nicht, neben einem Denunzianten zu sitzen.«
Auf einmal hatte Heiko Tränen in den Augen. Er schluchzte, dann sackte er in sich zusammen.
Ich schlürfte ein wenig Grieß von meinem Löffel und versuchte ihn zu ignorieren.
