Winter 2015

Winter kam zu Besuch. Es war nur ein kurzer Besuch, aber sie drohte schon an, ab jetzt öfter zu kommen. Sie blickte sich im Raum um und sagte, dass sie noch nie so einen langweiligen Typen wir mich getroffen hatte. Ich wäre ja wohl die Ausgeburt der Spießigkeit und meine Eltern müssten entsetzlich enttäuscht von mir sein.
Ich sagte, dass ich mich auch freuen würde, sie zu treffen – und meinte in diesem Fall, mit einer Bleikugel zwischen die Augen.
Sie sagte, dass sie genau wüsste, was Herbst während unseres letzten Treffens gemacht hätte. Sie sagte: “Ich habe die verdammten Stürme nicht. Die hat er selbst verschlammt.
Er muss nicht andere beschuldigen, wenn er selbst nichts auf die Kette bekommt.”
Etwas überrascht sagte ich: “Wenn sie es wussten, warum haben sie sich dann mit mir unterhalten?”
Sie sagte: “Das Spielchen war einfach zu verlockend. Ich wollte sehen, wie lange du durchhältst, mein Junge.” Ich sagte: “Sie haben mich also nur deswegen so beleidigt?”
Sie sagte: “Ach Jüngelchen, das mache ich mit jedem. Bei Dir hat es nur zusätzlich Spaß gemacht.”
Ich fragte sie, warum sie so eine boshafte Hexe wäre und sie sagte, dass sie einfach so geboren wurde.
Dann drehte sie sich um die eigene Achse und wollte gehen.
Ich rief ihr nach:“Sind Sie nicht dieses Jahr etwas früh dran?“
Sie drehte sich nicht einmal um, als sie über ihre Schulter sagte: „Die nächsten paar Tage sind nur zur Probe. Herbst arbeitet von zu Hause weiter. Das kannst Du dir einreden, mein Junge, wenn es Dich glücklich macht“ Dann war sie verschwunden.
Eigentlich hatte ich darauf gewettet, dass sie sich ein Beinchen ausreißt und im Erdboden verschwindet. Aber wir sind ja leider nicht im Märchen.

Noch nicht entschieden

Winter sah mich über die Gläser ihrer Brille hin an. Sie sagte: “Ich habe immer noch nicht entschieden, ob ich mich mit Dir unterhalten sollte, Junge.”
Ich zuckte mit den Achseln und sagte: “Warum denn nicht? Ich wusste nicht, dass noch Hoffnung besteht.”
Ihre Mine blieb wie sie war, kein Lächeln oder irgendein anderes Anzeichen einer Emotion zeigte sich, als sie sagte: “Man sollte nie mit Idioten reden. Aus der Entfernung kann ein Zuschauer die Beiden nicht unterscheiden.”
Ich sagte: “Im Zeitalter des Internets ist das kein Problem mehr. Da sind alle Minderbemittelte. Es diskutieren die Stars mit dem Pöbel – auf Facebook und Twitter, überall spricht jeder mit jedem.”
Sie sagte: “Nur weil man jetzt jeden Menschen als Hirnlosen bezeichnen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich mich mit Dir unterhalten muss.”
Ich sagte: “Bei Deinen hohen Anforderungen musst Du aufpassen, dass Du überhaupt noch jemand zum Unterhalten findest. Bald bis du sonst ganz allein und redest mit Dir selbst.”
Sie sagte: “Gott behüte. Diese Gespräche sind immer so langweilig und ich drehe mich meistens im Kreis. Wobei ich fast jede Diskussion gewinne…
Ich bin trotzdem noch unsicher. Man muss sich ja nicht immer unterhalten.”
Ich sagte: “Sicherlich nicht. Manchmal ist ‘Schnauze Halten’ die beste Alternative , die auf jeden Fall zum Ziel führt.”
Winter lächelte und sagte: “Sag ich doch.”

Schleichende Christianisierung des Abendlandes

Winter war heute erneut in meinem Büro. Ihre Haare flatterten im Wind, den ich nicht wahrnahm. Sie lächelte kühl, als sie die Tür öffnete, ließ jedoch kein Wort der Begrüßung fallen.
Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, ohne dass ich ihr das angeboten hatte und sah mich an, wie eine Schlange ihr Opfer fixiert. Nach fünf Minuten gab ich entnervt meine Arbeit auf und sah sie an.
Sie sagte: »Hast Du keine Angst vor der Islamisierung?«
Ich sagte: »Ich habe eher Angst vor der Christianisierung.«
Sie erhob eine Augenbraue und wartete auf meine Erklärung.
Ich sagte: »Hier in diesem Land halten sich alle für Christen und meinen nach dem Buch zu leben. Wenn man allerdings genau hinsieht, lebt keiner von ihnen danach. Sie haben die Bibel meistens noch nicht einmal gelesen.«
Winter verengte die Augen zu kleinen Schlitzen. Sie wackelte mit dem Kopf, als wäre der nicht angewachsen und sagte: »Kannst Du mir Beispiele nennen?«
Ich sagte: »Im Römerbrief steht, dass sich jede Frau verschleiern muss und Männer keine langen Haare haben dürfen. An vielen Stellen steht, dass man Ungläubige ermahnen und wenn das nichts bringt, steinigen sollte. Ehebruch ist grundsätzlich mit dem Tod zu bestrafen.
Die Bibel ist voller konkreter Angaben, die kein Schwein befolgt. Aber die Menschen meinen, dass das Christentum so viel besser ist, als der Islam.«
»Du meinst also, wir sollen alle Moslems werden?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine, wir sollten erst einmal Humanisten sein. Wir sollten den Mitmenschen helfen und für ihn da sein. Danach können wir sein, was wir seien wollen.«
Erneut schüttelte Winter ihren Kopf und ließ ihre Zunge dabei schnalzen. Sie stand auf und verließ das Büro.
Ich dachte, dass sie mich nicht fragen sollten, wenn ihr meine Antwort nicht gefällt.

Erwischt

Winter stolzierte diesmal mit einem Mantel, der bis zum Boden reichte, in mein Büro. Sie hatte die Nasenspitze so weit gehoben, dass sie fast über den Stuhl gefallen wäre. Ihre Augen konnte ich hinter der Sonnenbrille, die sie trug, nicht sehen.
Sie sagte: »Das Elend auf diesem Planeten kotzt mich an.« Irgendwie konnte ich ihr da nur zustimmen. Allerdings widersprach es meiner Überzeugung, Winter in irgendeinem Punkt zuzustimmen. Eher hätte ich mir meine Zunge abgebissen.
Außerdem wusste ich, dass sie eine andere Intention hinter ihren Worten hatte.
Ich sagte: »Wenn Dir der Planet so missfällt, dann nimm Dir doch einen anderen.«
Sie überhörte meine Worte einfach und sagte: »Die Armen regen sich die ganze Zeit darüber auf, dass sie kein Essen haben. Warum sind sie nicht froh überhaupt zu leben.«
Diesmal war es an mir, die Augen zu verdrehen. Ich sagte: »Die Reichen könnten ja auch etwas von ihrem Reichtum abgeben, damit es den Armen nicht so schlecht geht.«
Sie sagte: »Jetzt sag mir bitte, dass Du das machst.«
Ich sagte: »Ok, Du hast mich. Eigentlich gebe ich viel zu wenig.«
Ein eisiges Lachen zog über ihre Lippen, wie Nebel aus einem Flussbett. Sie sagte: »Ihr seid viel zu egoistisch, damit sich was ändert. Wenn ihr wirklich vor hättet, dass sich was ändert, dann würde sich auch was ändern.«
Dieses Biest hatte tatsächlich einen wunden Punkt getroffen. Wie konnte ich nur so unüberlegt in eine ihrer Fallen tappen?
Ich sagte: »Du hast mich ertappt.«
Sie sagte: »Weiß ich. Du schuldest mir was.«
Dann stolzierte sie aus dem Raum und hinterließ mich zähneknirschend.
Man sollte nie die Schnauze zu weit aufreißen, wenn man nicht bereit ist, auch dafür etwas zu machen.

Anders glauben

Winter schwebte in den Raum. Sie hatte eine helle Kombination an, die sie umgab wie Schnee.
Vor der weißen Bürowand bot sie reichlich wenig Kontrast.
Sie sagte: »Wenn man das halbe Jahr in seiner Bude rumlungert, bekommt man miese Laune.«
Ich sage: »Wenn man zu lange mit Dir spricht, scheint das ähnliche Effekte auszulösen.«
Winter ignorierte meine Worte und lamentierte weiter. Sie ließ die die Zunge schnalzen und sagte: »Wenn nicht regelmäßig Zeugen Jehovas vorbeikommen, hätten man gar keinen Besuch.«
Ich sagte: »Ich möchte mich hier eigentlich nicht über andere Religionsgemeinschaften unterhalten. Eigentlich sind alle Leute, die ich kennengelernt habe, mit einem anderen Glauben als meinen, immer recht nett gewesen. Man muss ihnen nur die Chance geben, sie kennenzulernen.«
Winter sagte: »Ach bitte, Du willst mir doch wohl nicht weißmachen, dass Dir der Glauben von anderen egal ist.«
Ich sagte: »Ich würde es anders sagen. Mir sind die Menschen wichtig. Ihre Religion ist mir egal.
Ich habe schon Hindus kennengelernt, die freundlich und aufgeschlossen waren. Genauso wie Moslems und Leute aus allen möglichen christlichen Schattierungen. Die meisten von ihnen waren sehr angenehme Gesprächspartner. Ich habe mich gerne mit ihnen unterhalten.«
Winter schluckte. Sie sah überhaupt gar nicht begeistert aus. Sie sagte: »Aber der Islam ist doch so streitbar.«
Ich sagte: »Die meisten Moslems sind sehr ruhig und leben sehr friedlich. Sie sagen, dass der Terrorismus keinen Platz in ihrem Glauben hat.«
Winter schnalze erneut mit der Zunge. Sie sagte: »Natürlich gehört der Terror dazu.«
Ich sagte: »Es gibt genügend Christen, die ebenfalls vernarrte Idioten sind und Bomben werfen. Gehört das zum Christentum?«
Winter sagte: »Natürlich nicht. Das Christentum ist friedlich.«
Ich sagte: »Das sag mal bitte allen Opfern des 30-jährigen Kriegs und der Kreuzzüge.«
Winter sagte: »Negative Beispiele gibt es immer.«
Ich sagte: »Komisch, das ist doch genau das, was ich dir sagen wollte. Die Terroristen sind nur die Ausnahmen der Regel.«
Winter drehte sich auf dem Fleck um und ging.

Wenn alle schreiben

Winter war heute grau gekleidet. Sie hatte eine Brille auf der Nase, die ich bisher noch nicht an ihr gesehen hatte. Irgendwie passte ihre Erscheinung nicht zu dem Festtag. Wahrscheinlich feierte sie in einer andere Zeitzone.
Wie es so ihre Art war, fragte sie mich, ohne Begrüßung und andere Floskeln: »Meinst Du, dass im Moment noch viel gelesen wird?«
Ich sagte: »Es wird mehr gelesen als noch vor Jahren. Wahrscheinlich wurde zu keiner Zeit so viel gelesen wie heute.«
Sie schüttelte erneut den Kopf. Diese Reaktion hatte sie sich anscheinend bei jeder meiner Antworten angewöhnt. So langsam wurde es ›Pawlow’esk‹. Ich nahm mir vor, am morgigen Tag ein Glöckchen bereitzulegen.
Sie sagte: »Heute liest doch keiner mehr. Man hört Hörbücher oder sieht Filme und Serien. Intellektuelle gehen vielleicht noch ins Theater.«
Ich sagte: »Solange Du Literatur meinst, hast Du vielleicht recht. Aber wenn ich jetzt lesen sagte, so meinte ich diese kleinen Texte von höchstens drei Zeilen, auf Facebook oder Twitter. Meist reicht es zwar nur für die Überschrift, aber pro Tag konsumiert man erschreckend viel von dem Zeug.«
Winter sagte: »Das ist, als würde man nur den Zuckerguss vom Kuchen lutschen.«
Ich sagte: »Wahrscheinlich ist es ähnlich unhygienisch und damit krankheitserregend für alle Sinne. Irgend ein Autor sagte mal, dass das Lesen enden würde, wenn alle schreiben.
Ich befürchte, dass er diese Zeit gemeint hat.«
Winter sagte: »Du solltest dringend Deinen WhatsApp Status ändern.«, drehte sich um und war verschwunden.
Sie hinterließ mich, während meine Augen eine fast perfekte Runde in ihren Höhlen hinlegten.
Dann wünschte ich allen Bekannten ein frohes Fest und hoffte, dass sie den Abend so schön wie möglich verbrachten.

Stille Nacht mit Winter

Meine Familie und ich, saßen harmonisch um den Baum herum, als es klingelte.
Meine Frau verdrehte die Augen und sagte: »Sag mir jetzt bitte nicht, dass es diese merkwürdige Person ist.«
Ich sagte ihr, dass ich nichts dagegen machen konnte. Sie war nun einmal da und sie hang mir am Hals, ob ich wollte oder nicht.
Als ich öffnete, lehnte Winter sich gegen den Türrahmen und pfeilte ihre Nägel. Sie sah noch nicht einmal auf, um mich zu begrüßen.
Als ich die Tür gerade zuschlagen wollte, war sie mit zwei kleinen Schritten eingetreten.
Sie schritt durch den Raum und rümpfte die Nase über den Weihnachtsbaum, der in der Ecke stand.
Sie sagte: »Wie armselig ist dass denn?«
Ich sagte: »Ich habe Dich nicht eingeladen, also kannst Du mir wenigstens die blöden Kommentare ersparen.«
Sie sagte: »Soweit ich mich erinnern kann, sparst Du sie Dir ja auch nicht. Auf alle meine Fragen kommen blöde Antworten, mein Junge, als ob ich mir das bieten lassen müsste.«
Mit einer Handbewegung schleuderte sie ein paar Geschenke von der Couch und ließ sich anschließend auf den freigemachten Platz fallen.
Ich musste zweimal blicken, bis ich ihr Lächeln wahrnahm. Sie schaute durch die Fenster nach draußen und war anscheinend recht glücklich.
Ich sagte: »Kann ich irgend etwas gegen Dich tun?«
Sie sagte: »Ihr Kreaturen seid immer so glücklich an diesen Tagen.«
Soweit ich weiß, hatten die meisten Menschen entweder Stress oder Depressionen. Leise rieselt der Schnee bestimmt gerade auf eine Leiche. Von »Stiller Nacht« kann man bei dem Geschrei der Familie in der Wohnung unter uns auch nicht mehr sprechen.
Ich sagte: »Dann hast Du Weihnachten bestimmt noch nie in einer Familie verbracht.«
Sie sagte: »Eigentlich will ich das auch gar nicht. Sonst würdet ihr mir meinen Glauben an eine frohe Weihnachtszeit auch noch nehmen.«
Dann stand sie auf und sagte: »Für heute lass ich Dich in Ruhe. Aber morgen komm ich vorbei und will einen Braten essen.«
Als sie die Wohnung verließ sah ich, wie meine Frau ihren Zeigefinger an den Kopf steckte und so tat, als würde sie eine Schraube festdrehen.
Ich glaub, ich werden morgen kochen müssen.

Festessen ohne

Als Winter kam, hatte ich gerade den Tisch gedeckt. Sie schüttelte mit dem Kopf, als sie das Essen sah.
Dann sagte sie: »Eigentlich bin ich auf Diät.«
Ich sagte: »Warum hast Du Dich eingeladen, wenn Du dann nichts isst?«
Sie ging an mir vorbei, nahm ein Glas und füllte es mit Wein voll. Von Etikette hatte sie anscheinend noch nicht viel gehört.
Sie sah mich an und sagte: »In Afrika verhungern Menschen und ihr macht auf Festessen.«
Ich sagte: »Ich kann Deinen Teil des Bratens auch nach Afrika schicken, wenn Dir das lieber wäre. Soll ich Luftpost oder normal buchen?«
Erneut tat sie so, als hätte sie mich nicht gehört. Sie sagte: »Ihr habt den Reichtum einfach nicht verteilt.«
Ich sagte: »Du hast recht. Wir haben auf unserer Erde vieles nicht richtig im Griff. Außerdem läuft auch viel falsch, gegen das wir nichts unternehmen.
Ich frage mich nur gerade, ob Du Dich hinsetzten willst?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Eigentlich habe ich gar keine Zeit dafür.«
Dann rannte sie aus dem Zimmer.
Ich setzt mich und nahm das Telefon von der Ladestation. Zum Glück hatte ich noch ein paar Freunde, die ich einladen konnte. Schließlich wollte ich das Festessen nicht verkommen lassen.

Materiell

Meine Frau meinte, dass mir nicht auffallen würde, wie sehr Winter jedes Mal protzte. Tatsächlich ist es eine meiner ureigensten Eigenschaften, dass ich es einfach nicht begreife, wenn andere in meiner Gegenwart mit Dingen angeben.
Heute beobachtete ich Winter ganz besonders. Tatsächlich setzte sie ihre Diamantringe und die teuren Klamotten immer ins rechte Bild, so dass man sie nicht übersehen konnte.
Ich sagte: »Sag mal, willst Du mir mit den Ringen eigentlich etwas sagen?«
Sie sagte: »Die waren sehr teuer. Ich glaub nicht, dass Du Dir so etwas überhaupt leisten könntest. Selbst wenn Du bis an Dein Lebensende dafür sparst.«
Ich sagte: »Ich glaub, wenn ich bis an mein Lebensende für etwas spare, kauf ich keine Diamantringe.«
Sie sagte: »Nein ihr Männer steht ja eher auf Sportautos und Segeljachten.«
Mein Kopf wanderte von einer Seite auf die andere. Ich sagte: »Das Geld wäre mir zu schade. Da würde ich mir eher etwas anderes holen.«
In ihrem Gesicht huschte eine Augenbraue nach oben, als hätte ein Reh das Rudel für einen Augenblick verlassen. Anscheinend zeigte sie so ihr Erstaunen.
Ich sagte: »Während sich meine Freunde sich jedes Jahr Urlaube und alle paar Jahre ein Auto gönnten, wollte ich ehr einen neuen Computer.
Außerdem, was soll der ganze Materialismus? Mitnehmen können wir das Zeug nicht.«
Sie sagte: »Du meinst in das nächste Leben?«
Ich sagte: »Daran glaube ich persönlich nicht. Ich meinte eigentlich eher das Altersheim. Da ist es egal, welchen Wagen Du in der Garage hast. Er wird eh für Deine Pflegestufe geopfert.
Ich denke da an meine Oma, die aus eigenem Wunsch in ein Heim gebracht wurde, als sie nicht mehr gehen konnte.
Dort war es eher wichtig, dass man was erlebt hatte.
Wenn Du im Stuhlkreis sitzt und von Deinen Jachten und Wagen sprichst, wirst Du gelangweilte Leute sehen, die ihre Rollwagen möglichst zügig aus Deinem Weg schieben.
Wenn Du jedoch coole Geschichten aus Deiner Vergangenheit hast, wird man Dir zuhören.«
Winters Gesichtszüge zeigten Belustigung, als sie sagte: »Du machst das alles für das Altersheim?«
Ich sagte: »Nein, ich mach das für mich.«
Sie ließ die Zunge schnalzen, als wäre sie Indiana Jones mit seiner Peitsche und würde mit dieser gerade ein Opfer erlegen. Dann dreht sie sich um und war verschwunden.

Gut gegen böse

Winter schwebte heute ins Zimmer. Sie hatte einen irren Blick, als würde sie von irgendetwas getrieben werden.
Ich sagte: »Was verschafft mir die Ehre?«
Sie sagte: »Du bist schon wieder so abweisend. Freu Dich doch einfach, dass ich Dich besuchen komme.«
Ihre Besuche waren schwerer zu ertragen, wie ein Leben unter einer Brücke einer ICE-Strecke, ohne warme Kleidung im Schnee. Wirklich gewöhnen konnte man sich daran einfach nicht. Warm werden, stand nicht zur Debatte.
Ich sagte: »Gut finde ich Deine Besuche sicherlich nicht.«
Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie sagte: »Das Konzept von gut und böse habe ich sowieso nie begriffen. Wenn ich euch Menschen richtig verstehe, dann ist gut so etwas wie langweilig.
Wenn man sich die Leute ansieht, die sich selbst als Gutmenschen bezeichnen, dann schlafen einem doch gleich die Fußnägel ein. Auf der anderen Seite sind die Bösen immer die richtig interessanten.
Schlägt man eure Zeitungen auf – ich gebe zu, ein ziemlich antiquiertes Vergnügen, welches ich ab und zu mal nachkomme – dann sind sie voll, von den Taten der Bösen. Von den Langweilern ließt man da nicht.«
Sie gab mir Zeit zum Nachdenken, während sie unstet durch Zimmer schneite. Irgendwie ergaben ihre Worte Sinn.
Ich sagte: »Wenn man das Fernsehen anschaltet – wahrscheinlich auch bald genauso antiquiert – dann merkt man schnell, dass die Anzahl der bösen Charaktere überhandnimmt. Selbst der Held darf nicht nur gut sein.«
Sie sagte: »Das hat sich doch auch in eurer Partnerwahl verankert. Wer mag schon den Milchbubi, der mit seinem Glas Wasser in der Ecke hockt. Der Typ mit der boshaftesten Ausstrahlung bekommt immer die heißesten Frauen ab.«
Ich nickte. Waren wir Menschen tatsächlich so primitiv gepolt?
Dann zuckte ich mit den Schultern. Vielleicht sollte ich mir mal ein anderes Image anlegen. Das wäre wohl wirklich an der Zeit.

Weichei Protogonisten

Winter war heute nicht gerade gut gelaunt. Sie suchte Streit.
Ich glaub, dass jeder Mann instinktiv weiß, wenn eine Frau Streit sucht. Einen Weg Drumherum gibt es meistens nicht. Aus diesem Grund liebe ich auch den direkten Weg, d.h. die direkte Konfrontation. Ein reinigendes Gewitter hat schon vielen geholfen und selten geschadet.
Allerdings wusste ich nicht, ob ein sofortiger Bruch mit Winter nicht wesentlich hilfreicher für mich wäre.
Winter sagte: »Du bist so verdammt passiv. Wenn ich sehe, wie uninteressiert Du bist, dann kotzt mich das an.«
Ich sagte: »Das kann ich gut verstehen. Passive Charaktere sind die zweitschlimmsten Personen in Literatur, Theater, Film und Fernsehen.«
Sie sagte: »Anstatt Dich zu rechtfertigen, sprichst Du von Allgemeinplätzen. Wenn ich Dich angreife, dann lenkst Du ab.
Wenn ich Dir jetzt sage, dass Du ein weinerliches Weichei bist, was antwortest Du dann?«
Ich sagte: »Diese Charaktere sind mit Abstand die Meistgehassten. Sobald der Protagonist anfängt zu weinen, verliert er alle Sympathie. Der Tod eines Statisten, der heult, ist für den Zuhörer, Zuschauer oder Leser meistens hoch befriedigend. Niemand will sich mit Weicheiern und Heulsusen identifizieren.«
Winter verdrehte die Augen.
Ich sagte: »Schreckschrauben wie Du, machen allerdings gute Antagonisten. Noch ein wenig mehr Darth Vader und wir haben einen Fiesling für die Geschichte gefunden.«
Winter fauchte wie eine Katze. Sie schrie mich an, so laut, dass ich die Worte nicht hören konnte. Dann rannte sie zur Tür und war verschwunden.
Ich schüttelte nur traurig meinen Kopf und war kurzzeitig so weit mich zu bemitleiden.
Da ich allerdings weiß, dass das hier keiner von mir lesen möchte, bitte ich um Entschuldigung.

Familienbande

Ich fragte Winter nach ihrer Familie. Dabei hatte ich die Hoffnung sie, von ihrem ewigen Genörgel über mich, abzulenken.
Sie sagte: »Herbst hast Du ja schon kennengelernt. Er ist ein furchtbarer Misanthrop. Wenn man ein Beispiel für Introvertiertheit benötigt, müsste man sich nur Herbst ansehen. Außerdem ist er so deprimierend, das man ihn zum Einschläfern von Pferden mit gebrochenen Füßen einsetzten könnte.
Ich halte seine Gegenwart einfach nicht lange aus.«
Der Begriff Misanthrop schien mir mehr auf Winter selbst zu passen, als auf Herbst. Aber die Reflexion eigener Laster auf andere ist weit verbreitet. Gerade beim Lästern scheint das ja üblich.
Winter sagte:»Schwester Frühling ist das absolute Gegenteil. Sie macht so viele dumme Späße, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie auch mal irgendetwas ernst nimmt. Dazu ist sie noch unendlich launisch. Von einer auf die anderen Stunde kann sie ihre Meinung um 180° gedreht haben.
Eine schrecklich anstrengende Person, wenn Du mich fragst.
Dann gibt es natürlich noch Bruder Sommer. Er ist einer der Typen, die man nur vollgedröhnt auftrifft. Ein zusammenhängendes Gespräch wäre einfach nicht möglich. Sobald er den Mund aufmacht, hat man das Gefühl, dass man gleich wegfliegenden würde.«
Ich sagte: »Du hältst nicht viel von Deiner Sippe?«
Winter sagte: »Ich halte von vielen nicht viel. Sie sind trotzdem meine Familie. Also erlaube Dir nie, in meiner Gegenwart schlecht über sie zu sprechen.«

Vertrottelte Zeiten

Winter fragte mich nach einer netten Geschichte.
Ich musste einige Zeit überlegen. Eigentlich fiel mir Nichts ein. Irgendwann ist mach einfach nur ausgebrannt. Was soll man dann noch groß erzählen?
Außerdem war es schwierig Winter von etwas zu erzählen. Sie sollte ja auf keinen Fall in ihrer Meinung über mich bestätigt werden.
All meine kleinen Missgeschicke mussten daher unter den Teppich gekehrt werden. Die Geschichte, dass ich einmal zwei Prüfungstermine im Vordiplom vertauscht hatte, durfte ich zum Beispiel auf keinen Fall erzählen.
Ich war, meiner Meinung nach, pünktlich vor der Bürotür des Professors erschienen. Dort traf mich einer seiner Mitarbeiter und teilte mir mit, dass der Professor im Moment gar nicht im Land war.
Etwas überrascht blickte ich auf meinen Terminplan und musste feststellen, dass der Tag auf jeden Fall stimmte. Nur die Zeit und das Prüfungsthema hatte ich leider vertauscht.
Anstelle von Anorganischer Chemie hatte ich am gleichen Tag und nur zwei Stunden in der Zukunft eine Prüfung in Physikalischer Chemie.
Blöd gelaufen.
Ich setzte mich sofort hin und lernte, so viel ich konnte. Es hätte gerade so für eine schlechte 2 gereicht.
Blöderweise erzählte ich am Ende der Prüfung dem Prüfer davon, dass ich die Termine vertauscht hatte. Er bot mir an, die Prüfung noch einmal zu wiederholen. Er meinte, so würde ich meine Zensur noch verbessern können.
Das Ende vom Lied war, dass sich mein Missgeschick im gesamten Kollegium rumsprach. Der nächste Professor begrüßte mich schon mit den Worten: ›Sind sie sicher, dass sie heute die Prüfung bei mir haben?‹
Noch schlimmer war jedoch die Wiederholungsprüfung beim ersten Professor.
Der quälte mich länger als zuvor und sprach immer nett sein Mantra: ›So jemanden wie mich hätte er noch nicht kennengelernt. Ich würde wahrscheinlich auch meine eigene Hochzeit verpassen.‹
Die Zensur war dann eine glatte 3. Ich bin dem Professor ab dann aus dem Weg gegangen. Die Gefahr war zu groß, ihm sonst ins Gesicht zu springen.
Zu sagen bleibt noch, dass ich pünktlich zu meiner Hochzeit war.
Nette Geschichte, aber gegenüber Winter werde ich sie sicherlich nicht erzählen. Ich bin doch nicht verrückt. So eine Geschichte behält man lieber für sich. Wer erzählt schon von einer solchen Sache?

Jobs im Winter

Ich fragte Winter, ob Sie, wie auch ihr Bruder, ab und zu Jobs angenommen hatte. Sie lächelte mich eiskalt an.
Irgendwie wusste ich nicht, was sie damit bezwecken wollte. Ihr Lächeln hatte etwas von dem Blick einer Raubkatze, kurz bevor sie sich auf einen lahmen Wasserbüffel stürzt.
Für ein paar Augenblicke war ich mir nicht sicher, ob sie noch antworten würde.
Dann räusperte sie sich und sagte: »Natürlich hab ich dann und wann auch mal etwas gemacht.«
Ich sagte: »Das liegt nicht unterhalb Deiner Würde?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Solange der Job gut bezahlt ist…«
Dann schwieg sie wieder. Anscheinend wartete sie auf meine nächste Frage. Ich erwog, die Frage einfach auszulassen. Vielleicht würde sie das verärgern?
Dann gab ich nach – schließlich war meine Geduld nicht unendlich und mein Wunsch schweigend in Winters Nähe zu sitzen minimal.
Ich sagte: »Erzählt mir mal von Deinen Jobs.«
Sie nickte, als hätte ich genau das gemacht, was sie wollte. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als hätte man mir den Kopf getätschelt und mich hinter den Ohren gekrault. Ich unterdrückte den Drang mit dem Hintern zu wackeln. Mit meinem Schwanz zu wedeln stand nicht zur Debatte.
Dann sagte sie: »Ich war einmal als Kommissarin tätig…«
Noch bevor sie weitersprechen  konnte, unterbrach ich sie und sagte: »War es der Fall mit der alten Frau, die umgebracht wurde? Der Fall, bei dem alle Türen und Fenster von innen verschlossen waren?« (HIER)
Mit einem breitem Lächeln sagte Winter: »Wer hat Dir davon erzählt?«
Ich sagte: »Ich erinnere mich noch gut. Es war Herbst. Er hatte den Fall als Erster.«
Winter nickte kurz. Dann sagte sie: »War ein merkwürdiger Fall. Der Dilettant hätte ihn nie lösen können.«
Ich sagte: »Erzähl mir davon.«
Sie sagte: »Morgen… Jetzt werde ich mir erst einmal die Nägel lackieren.«
Mit einer gekonnten Drehung war sie an der Tür und entschwunden.

Alte Hüte

Heute fragte ich Winter, wie sie den Fall der toten alten Frau geklärt hatte.
Sie legte die Stirn in Falten und sagte: »Es war ein ziemlich harter Fall, mein Junge. Alle Wege nach draußen waren von innen geschlossen.«
Unruhig wippte ich auf meinem Stuhl. Ich sagte: »Das weiß ich doch schon alles.«
Sie sagte: »Weißt Du auch, dass die alte Schachtel einen Diamantenraub beobachtet und die Verbrecher mit ihrer Aussage hinter Gittern gebracht hatte?«
Während sie sprach, nickte ich die gesamte Zeit. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Der Diamant war übrigens bis zum Tod der alten Dame unauffindbar.«
Ich sagte: »Das weiß ich doch schon alles. Ich weiß auch, dass der letzte Gangster fast zur gleichen Zeit wie die alte Dame im Gefängnis gestorben ist.«
Überrascht erhob sie die Augenbrauen.
Sie sagte: »Warum fragst Du dann überhaupt nach dem Fall, wenn Du schon alles weißt.«
Entnervt schüttelte ich den Kopf. Sie schnalzte ein paar Mal in Folge mit der Zunge. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging aus dem Raum.

Mentales Mottenkugelnlutschen

Diesmal versuchte ich es mit gespielter Freundlichkeit. Ich hatte Winter schon einen heißen Tee hingestellt und hoffte sie damit etwas länger zu halten und ihr Informationen zu entlocken.
Als sie in den Raum trat und das heiße Getränk sah, rümpfte sie die Nase. Sie sagte: »Was soll das denn jetzt bitte, mein Junge?«
Ich sagte: »Ich würde sehr gerne wissen, wie Du bei dem Verbrechen vorgingst, welches wir gestern besprochen haben.«
Sie lächelte mich gönnerhaft an und sagte: »Tja, ich hatte so meine Mühe damit.«
Ganz langsam setzte sie sich zu mir an den Tisch. Dann hob sie die Teetasse an den Mund. Bevor sie trank, sagte sie: »Was hältst Du eigentlich von den ganzen merkwürdigen Teesorten, die es mittlerweile gibt?«
Entnervt sah ich sie an. Alle meine Gesichtszüge entgleisten gleichzeitig und wurden umständlich zurück in den Bahnhof geschoben. Sie sagte: »Besinnlichkeit, Entspannung, Power, Energie, Magen und Darm – sie erfinden immer etwas Neues.«
Ich sagte: »Meinst Du nicht, dass schon genug darüber gesprochen wurde?«
Sehr langsam führte sie die Tasse weiter. Mit einem Schnauben zog sie einen winzigen Schluck ein. Dann schüttelte sie sich.
Ich sagte: »Zu kalt oder zu warm?«
Winter schüttelte den Kopf und sagte: »Gerade richtig. Aber Du hast mir noch nichts von Deiner Meinung über Teesorte gesagt.«
Ich sagte: »Ich habe noch nie irgendeine Wirkung erlebt. Der Tee zur Beruhigung beruhigt mich genauso, wie der mit Energie. Sobald grüner oder schwarzer Tee dabei ist, macht er zwar wach, aber mehr auch nicht.
Die Sorte ‚Glück‘ ist mehr mentales Mottenkugelnlutschen als Propellermütze. Ob ich mir die Wirkung des Erkältungstees nur einbilde oder ob sie medizinisch belegt ist, kann ich nicht sagen. Hätte man Wirkstoffe, die wirklich einen Effekt hätten, wären sie in Deutschland wahrscheinlich sowieso verboten. Die meisten Bezeichnungen sind absolut sinnfrei.«
Winter nickte und nippte weiter.

Das Versprechen

Winter kam heute hereingeschneit, wie der Wind durch die Gardinen eines offenen Fensters. Sie entblößte beim Lächeln ihre Zähne, die ungesund weiß waren. Wahrscheinlich werden die Dinger im Dunklen leuchten, dachte ich mir.
Noch bevor ich die Frage stellen konnte, die mich so sehr beschäftigte, sagte sie: »Warum machst Du das überhaupt?«
Sie hätte mich auch aus dem Stand anspringen können, ich hätte nicht überraschter sein können.
Ich sagte: »Was meinst Du? Atmen? Aufrecht Stehen? Mit Dir sprechen? Eigentlich wundert mich der letzte Punkt selbst. Eigentlich sollte ich mir darüber einmal Gedanken machen …«
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie Wasser aus ihren blonden langen Haaren schleudern und sagte: »Nein, ich mein die ganze Schreiberei?«
Ich sagte: »Meinen Blog? Die Dinge, die ich jeden Tag festhalte?«
Jetzt nickte sie.
Ich sagte: »Da brauch ich aber länger Zeit, um Dir das verständlich zu machen. Nicht nur die paar Minuten.«
Sie sagte: »Dann erzähl es mir morgen.«
Bevor sie rausschneien konnte, baute ich mich in der Tür auf.
Sie sah mich überrascht an und ich sagte: »Dann musst Du mir aber auch etwas versprechen.«
Sie sagte: »Und das wäre?«
Ich sagte: »Erzähl mir von dem Verbrechen.«
Sie sagte: »Ok mach ich.« Dann war sie an mir vorbei geschlüpft. Ich fühlte nur einen leichten Luftzug, als sie die Tür hinter sich schloss.

Nach den Bäumen

Diesmal hatte Winter zwei Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit in ihren Händen. Ich war definitiv überrascht, wobei ich die Becher kritisch betrachtete. Ihre gute und überschwängliche Laune verdarb mir den Spaß auf die Beantwortung ihrer Frage.
Daher sagte ich: »Was hältst Du eigentlich vom Feminismus?«
Ihr Lächeln entschwand, wie das Eis von einer Autoscheibe, wenn man warmes Wasser drüberschüttet.
Sie sagte: »Du lenkst ab.«
Ich sagte: »Hast Du gestern auch gemacht.«
Wir beide schwiegen einen Augenblick. Sie stellte einen Becher vor mir ab und sagte: »Das mit dem Feminismus ist endlich einmal eine gute Idee.«
Ich griff nach dem Becher, roch daran – es war irgendetwas Fruchtiges drin – und nahm einen Schluck. Mit etwas Zucker wäre das Getränk besser.
Winter sah mich an und ich merkte, dass sie eine Erwiderung erwartete.
Ich tat ihr den Gefallen und sagte: »Wie meinst Du das?«
Sie sagte: »Ganz früher, kurz nachdem ihr von den Bäumen geklettert kamt, war die Frau das Zentrum der Gesellschaft. Sie war wegen der Fähigkeit der Reproduktion an der Macht.
Danach kamen die blöden Griechen und Römer und führte die Diktatur des Mannes ein. Nach fast 3.000 dunklen Jahren ist es doch wohl richtig, dass die Frau ihre eigentlich Rolle erneut annimmt.«
Das musste mir Winter genauer erklären.

Von Frauen und Pflugscharen

Winter sagte: »Wir Frauen sind einfach besser als ihr Männer.«
Ich nahm einen neuen Schluck aus dem Becher und sagte: »Das meinst Du doch jetzt nicht ernst. In was seid ihr Frauen besser als wir Männer?«
Sie sagte: »In Allem!«
Dabei sah sie im Raum umher, wie Königin Cleopatra kurz nach der Krönung über ihr Volk geblickt haben muss.
Ich sagte: »Es ist doch augenscheinlich, dass Männer stärker sind als Frauen. Das ist ja auch in allen Sportarten stark ersichtlich.«
Winter zuckte die Achsen und sagte: »Das liegt nur daran, dass wir Frauen mit unseren geistigen Fähigkeiten, uns gar nicht so anstrengen wollen.«
Für einen Augenblick dachte ich, dass sie mich verarschen wollte. Dann las ich aus ihrer Mine, dass sie es ernst meinte.
Sie fügte hinzu: »Wusstest Du, dass es bei den Ureinwohner Australiens üblich war, dass die Frau den Pflug zog, während der Mann hinten die Spur halten musste?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie sagte: »Das führte dazu, dass die Aborigines annahmen, dass die Kühe die Frauen der Engländer sein mussten, da diese ja den Pflug zogen.«
Sie nahm selbst einen Schluck, bevor sie sagte: »Du siehst, dass damals in dieser Kultur, die Frauen die harte Arbeit taten.«

Diskussionen mit Idioten

Ich sagte: »Aber man kann doch trotzdem nicht sagen, dass Frauen besser sind als Männer. Was ist denn mit der Gleichberechtigung?«
Winter lachte auf. Ihr Lachen klang so stark nach Fingern, die auf Schiefertafel kratzen, dass sich bei mir die Nackenhaare so weit aufstellten, dass wenn ich keine Kleidung getragen, ich von hinten, wie ein Stachelschwein ausgesehen hätte.
Sie sagte: »Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe. Einer muss doch siegen. Diese ganze Gleichberechtigung ist eine völlige Idiotie.«
Ich sagte: »Es wäre doch netter, wenn wir keinen Gewinner oder Verlierer hätten, sonder gleichberechtigte Partner.«
Sie sagte: »Wer glaubt denn so etwas? Du willst doch wohl nicht sagen, dass das irgendjemand befriedigen würde? Das Leben ist ein Spiel und da braucht man Schiedsrichter und Spieler. Das eine sind wir und das andere seid ihr. Wenn ihr nicht richtig spielt, werdet ihr vom Platz fliegen.
So einfach ist das.«
Ich sah sie fassungslos an. Wären meine Zähne nicht angewachsen, dann wären sie mir zu diesem Zeitpunkt aus dem Gesicht gefallen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass es nichts mehr zu diskutieren gab. Ich halte mich strickt an die Anweisung, dass man nicht mit Wahnsinnigen verhandeln sollte – aus der Entfernung kann man, wie ich es schon schrieb, beide Parteien nicht mehr auseinanderhalten.

Warum ich schreibe

Heute kam Winter zu mir und ich wusste, dass ich ihre anfängliche Frage beantworten musste, damit ich endlich eine Antwort auf meine Fragen erhielt.
Ich sagte: »Ich wollte Dir sagen, warum ich einen Blog habe.«
Sie setzte sich auf die Tischkante – eigentlich war es etwas zu nah, aber ich wollte nicht unhöflich sein.
Aus einer kleinen Tasche zog sie eine Nagelfeile und betrachtete anschließend prüfend ihre Fingernägel, als hätte man sie in Gold getaucht.
Nachdem ich nicht sofort anfing, klopfte sie mit dem Unterteil ihrer Feile drei mal auf den Tisch und sah mich ganz kurz an.
Ich sagte: »Eigentlich kann ich Dir darauf keine richtige Antwort geben, denn es gibt nicht nur eine.«
Da sie die Stelle zum Fragen vertrödelte, entschloss ich munter weiter zu reden.
Ich sagte: »Zunächst einmal schreibe ich gerne. Das ist nun einmal ein Hobby.
Als Zweites unterhalte ich mich gerne. Wir hatten damals an der Uni ein Forum, welches dazu genutzt wurde, allen möglichen Mist aufzuschreiben und andere damit zu unterhalten.
Der dritte Grund ist, dass ich meine Meinung sagen möchte. Oft schweige ich, wenn ich eigentlich etwas sagen sollte. Meist mache ich es nicht, weil es die Höflichkeit so gebietet. In meinem Blog kann ich allerdings sagen, was ich will.«
Winter feilte ab und zu an einer, dann wieder an der anderen Hand. Eine Reihenfolge konnte ich nicht ausmachen.
Als ein wenig Ruhe eingekehrt war, sah sie mich ganz überrascht an und sagte: »Das war ja langweiliger als ich erwartet hatte. Ich wäre fast eingeschlafen.«
Ich zuckte mit den Schultern.
Sie erhob sich und sagte: »Du bist mir immer noch eine Geschichte schuldig.«
Ich sah ihr nach und wusste nicht, was sie damit meinte.

Richtiges Verhalten gegenüber Raubtieren

Winter hatte einen weißen Kapuzenpulli an, auf welchem mit goldenen Lettern die Worte: »Lady De-Winter und ihre drei Musketiere« standen.
Mir war bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht klar gewesen, dass man solche Pullis auch in Weiß erhält.
Sie sagte: »Du schuldest mir eine Geschichte.«
Ich sah sie fragend an und sie sagte: »Erzähl mir, wie Du mit dem Schreiben angefangen hast.«
Ich sagte: »Eine Lehrerin hat es mir beigebracht. Sie hatte ziemliche Schwierigkeiten dabei, weil ich irgendwie nicht begreifen wollte, wie man die Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringt.«
Ihr Blick traf mich mit so einer Wucht, dass ich fast erfroren wäre. Ihre Stimme hatte eine klare Betonung auf den Zischlauten, so dass sie wie eine Schlange wirkte. Die gespaltene Zunge konnte ich nicht erkennen.
Sie sagte: »Fang da an, wo es interessant wurde.«
Ich sagte: »Für meine Lehrerin war meine Schrift auf jeden Fall interessant. Sie sagte, dass sie meine Texte einmal zu einem chinesischen Übersetzer bringen würde, nur um zu belegen, dass es sich hier keinesfalls um Deutsch handelt könnte.«
Jetzt sah man die Venen in ihrem Hals pulsieren.
Ich lächelte, wie man das vor Löwen machen sollte, um ihnen zu zeigen, dass man stärker ist als sie. Vielleicht hab ich das jetzt allerdings auch durcheinandergebracht.

Die ersten Texte

Beinah hätte ich Winter operativ aus meinem Gesicht entfernen müssen. Sie hatte ihre Krallen schon erhoben und in ihrem Blick lagen ausgefahrene Springmesser, die nur darauf warteten, durch mich hindurchzufahren, wie zwei Löffel durch Eierlikör.
Schnell sagte ich: »Eigentlich fing es während meiner Ausbildung als Chemielaborant an. Ich schrieb am Abend ein Tagebuch, welches ich immer wieder durch kleine Erzählungen ergänzte. Nach und nach entstanden so immer längere Texte.«
Die Hautfarbe von Winter wechselte langsam von der Farbe von flüssigem Metall zu der vornehmen Blässe zurück, die sie normalerweise bevorzugt. Sie nickte und sagte: »Weiter!«, wobei sie sich fast auf die Lippe biss.
Ich sagte: »Nach der Ausbildung entstand für mich eine ganz neue Welt. Ich hatte einen Freundeskreis, der gerne schrieb. Zunächst waren es nur kleine Gedichte, doch mit der Zeit wurden es Kurzgeschichten. Wir hatten sogar unsere eigene monatliche Zeitung. Ich glaube nicht, dass sie viel gelesen wurde, aber es war zumindest ein Anfang. Ich setzte die Texte auf eine Internetseite. Das muss um 1995 gewesen sein. Eine Geschichte wurde mir damals für 200 DM abgekauft. Das war ein ganz besonderer Moment. Begeistert von dem Geld wollte ich mich hinsetzen und ein Buch schreiben.«
Winter sagte: »Du müsstest mittlerweile ein paar Bücher gefüllt haben.«
Ich sagte: »Dazu kam es nicht. Das Studium war zu einnehmend. Dazu kam, dass meine Freunde lieber in den Pub gingen, als sich zum Schreiben zu treffen. Das Hobby wurde beerdigt – für eine verdammt lange Zeit.«

Romane und keine Ende

Winter sagte: »Und wie bist Du wieder angefangen?«
Ich sagte: »Ich habe ein Hobby gesucht, welches ich neben Job, Familie und Fernsehen ausüben kann. Da ich nicht unbedingt sportlich genannt werden kann, suchte ich etwas weniger Schweißtreibendes. Es war mir eigentlich sofort klar, was es werden sollte.«
Winter nickte und sagte: »Was dann?«
Ich sagte: »Natürlich wagte ich sofort den Schritt zum Roman. Ich stellte jeden Tag einen Text ins Internet.«
Ein Lachen erklang und Winter sagte mit spitzem Ton: »Tolle Innovation.«
Ich sagte: »Schon damals kein Novum – und das Ding war schwer wie Blei und ungefähr genauso gut verdaulich.
Was ich nicht wusste war, dass ich alle Anfängerfehler gleichzeitig beging. Ersteinmal hatte das Ding zu viele Perspektiven, dann einen zu großen Umfang – der Roman war zu ambitioniert. Man sollte erst beim dritten Roman hoffen, dass er etwas Besseres wird. Gerüchte besagen, dass Harry Potter der fünfte Roman der Autorin war. Die anderen waren so schlecht, dass sie nie das Licht der Sonne gesehen haben.
Der zweite Roman, den ich während des NaNoWriMo schrieb, war etwas leichter und bekömmlicher. Allerdings noch weit weg von guter Literatur.
Auch dieser Roman landete in Scheibchen im Internet und ist bis heute einsehbar. Allerdings warne ich jeden – bisher gab es nur sehr wenige, die das Ding bis zum Ende gelesen haben. Die Meisten sind vorher eingeschlafen.
Ein Jahr später schrieb ich die zweite Geschichte, die zu ⅔ fertiggestellt auf der Festplatte habe. Es ist immer noch nicht gut genug, um es zu veröffentlichen.«
Winter sagte: »Und da hast Du die Romane aufgegeben?«
Ich sagte: »Pustekuchen. Ich hab noch einen in der Mache. Allerdings ist die Handlung in ca. der Mitte des Buches, d.h. an dem Punkt an dem ich jetzt angelangt bin, etwas zäh.«
»Du hast keine Idee, wie es weitergeht?« »Doch, ich weiß genau wie es endet aber nicht, wie ich dahin komme.«
Sie sagte: »Blöd«
Ich sagte: »Du sagst es.«

Sport und ich auf getrennten Wegen

Winter sagte: »Was war das mit Dir und Sport?«
Ich sagte: »Ich bin so gelenkig wie eine Eisenbahnschiene und habe so viel Treffsicherheit, wie eine Sprenkleranlage. Leider sind meine Eltern wesentlich talentierter und kamen auf die Idee, dass der Junge unbedingt in dem mitgegründeten Tennisverein den weißen Sport lernen musste.
Das Ende vom Lied war, dass ich sieben Jahre Tennis gespielt habe. Alles natürlich mit eher ernüchternden Erfolgen. Nach sieben Jahren Anfängerkurs wurde ich von einem Typ unterrichtet, der mit mir angefangen hatte. Zum Glück war dieser Trainer so gnädig meinem Vater darum zu bitten, nie wieder Geld in mein Training zu investieren. Ich glaub der Kerl hat damals dabei geheult.
Meine erste Tränerin hielt mich schon für ein Unikat. Sie sagte zu meinen Eltern, dass sie noch nie einen Schüler gehabt hatte, der nach nur zwei Minuten fragt, wann denn endlich Schluss wäre.«
Winter sah an mir hinab und sagte: »Sport würde Dir sicherlich nicht schaden.«
Ich beachtete ihre Beleidigung einfach nicht und sagte: »Das Einzige was ich gerne machte, war Schwimmen und Skifahren. Allerdings immer darauf bedacht, nicht allzu sehr zu schwitzen.«
Winter sagte: »Das war beim Schwimmen sicherlich schwierig.«
Ich sagte: »Tanzen fand ich auch immer gut. Mein Tanzlehrer sagte immer zu mir: ›Junge Du hast den Rhythmus im Blut – aber wisch es bitte hinterher von der Tanzfläche, bevor jemand ausrutscht.«
Winter verdrehte nur die Augen.

Gemeine Heldin

Diesmal hatte ich Sie da, wo ich sie haben wollte. Sie wich mir mit ihren Augen aus. Das eigene, nicht ausgesprochene und trotzdem bindende Versprechen, ließ sie zögern.
Sie sah auf den Boden und sagte: »Warum interessiert Dich die alte Geschichte eigentlich so?«
Ich sagte: »Herbst erzählte mir von dem Verbrechen, welches er für das vielleicht interessanteste hielt, was er bearbeitet hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du nicht neugierig warst, wer der Täter war.«
Winter zuckte mit den Achsen und sah an die Decke. Sie sagte: »Können wir uns nicht über andere Dinge unterhalten?«
Ich sagte: »Ich habe Dir von mir erzählt und Du bist jetzt dran.«
Sie sagte: »Es gibt der Sache kaum etwas hinzuzufügen.«
Ich sagte: »Du hast den Fall nicht gelöst?«
Sie sagte: »Der Räuber und die alte Frau hatten zusammen einen Sohn. Wir haben das durch DNA Spuren belegen können. Natürlich musste der Sohn der Mörder der Alten gewesen sein.«
Ich sagte: »Konntet ihr ihn einsperren?«
Sie sagte: »Er hatte den Räuber kurz vor dessen Tod im Gefängnis besucht. Das führte uns erst einmal auf seine Spur. Die Alte hatte das Kind nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Interessant war, dass das Opfer des Raubmordes, bei dem der Diamant verschwand, der Ehemann der Alten gewesen war.
Anscheinend hatte sie die Räuber angagiert, um ihren Mann aus dem Weg zu schaffen. Verwunderlich war nur, dass die Räuber die Frau nicht verpfiffen hatten. Anscheinend lag das an der Beute oder an dem Sohn.
Für mich war die Dame auf jeden Fall eine Art Held. Sie hatte den Geliebten und den Ehemann gleichzeitig entsorgt und war damit sogar durchgekommen. Höchst bemerkenswert.«

Geheime Söhne

Ich sagte: »Was war mit dem Sohn?«
Winter zuckte erneut mit den Achseln und sagte: »Wir haben ihn nicht finden können. Es war ein totaler Reinfall.
Allerdings konnten wir noch nicht einmal sicher belegen, wer dieser Sohn überhaupt war. Beim Besuch bei seinem leiblichen Vater hatte er einen gefälschten Ausweis vorgelegt. Wir konnten allerdings DNA Spuren nachweisen, auf einem Glas, welches er benutzt hat. Bilder hatten wir keine. Der Kerl wusste genau wo die Kameras hingen.
Außerdem haben wir Spuren im Haus der alten Frau nachgewiesen, die sich mit den ersten Spuren deckten.«
Ich sah sie erstaunt an und sagte: »Waschen die ihre Gläser nicht so oft in der JVA?«
Winter lachte und sagte: »Nachdem man festgestellt hatte, dass der Ausweis gefälscht war, hat man das Glas sichergestellt.«
Ich nickte und sagte: »Und in der Wohnung?«
Sie sagte: »Auch ein Glas. Ich weiß nicht, warum der Kerl überall etwas trinken musste.«
Ich sagte: »Es hätte also Jeder seien können?«
Winter nickte und sagte: »Völlig unmöglich zu lösen.«
Ich sagte: »Du hast es trotzdem versucht und es ist Dir nicht gelungen. Deshalb wolltest Du mir nichts davon erzählen.«
Winter nickte erneut und sah mich an. Zorn blitzte in ihren Augen. Sie zischte zwischen den Zähnen hindurch, während sie sagte: »Ich musste den Fall an meine Schwester weitergeben. Vielleicht weiß sie ja mehr darüber.«
Ich nickte und lächelte. Also hatte ich schon einmal etwas, worauf ich mich freuen konnte.

Die Reise

Heute war der Besuch von Winter sehr merkwürdig. Sie war nicht ganz bei der Sache und wirkte, als hätte sie irgendetwas Wichtiges verlegt und wusste nicht genau, was es war.
Zunächst sah sie mich gar nicht an. Immer wieder ging sie im Zimmer hin und her. Ich hatte das Gefühl, dass sie mit den Zähnen knirschte.
Dann sah sie mich unvermittelt an und sagte: »Junge, die Welt geht vor die Hunde.«
Ich nickte und sagte: »Komische Erkenntnis, aber sie ist mir nicht fremd.«
Auf dem Platz stehend, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging erneut von der einen in die andere Ecke.
Da ich glaubte, dass sie das von mir verlangte, sagte ich: »Was meinst Du damit?«
Sie sah kurz auf, blickte dann jedoch auf den Boden und sagte: »Ich muss meine Mutter besuchen. Dazu habe ich wirklich keine Lust.
Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass ich da war, aber Du kannst mir glauben, es war nicht besonders lustig.«
Ich sagte: »Na toll. Dann sehen wir uns wohl eine ganze Zeit nicht?«
Die Hoffnung keimte in mir auf, wie eine Pusteblume, die durch den Beton gebrochen war. Leider war es der Straßenbelag einer vielbefahrene Hauptstraße und Winter ein LKW mit Sattelschlepper der gerade in meine Richtung donnerte.
Sie sagte: »Du kommst natürlich mit.«
Ich sagte: »Womit hat ich diese Ehre verdient.«
Sie sagte: »Ich hab keine Lust alleine zu reisen und deshalb wirst Du meine Koffer schleppen dürfen.«
Am liebsten hätte ich mir auf der Stelle in den Fuß geschossen. Leider war keine Waffe griffbereit. Widerwillig willigte ich ein. Welcher Mensch hat sonst noch die Gelegenheit die Erde kennenzulernen?
Winter stand tatsächlich neben meinem Bett, als ich heute aufwachte.
Sie sah mich über ihre Brillengläser an, als hätte sie im Biologieunterricht gerade einen Frosch aufgeschnitten und betrachtete gerade sein noch schlagendes Herz. Für eine Sekunde erwartete ich, ein »Höchst interessant« von ihr zu hören. Kombiniert mit einer vereinzelten hochgezogenen Augenbraue, hätte es mich nicht verwundert.
Sie sagte jedoch: »Junge – wenn Du ausgeschlafen hast, könnten wir endlich los.«
Ich streckte meine Arme vom Körper und gähnte. Dann sagte ich: »Irgendwie hab ich das Gefühl verarscht zu werden.«
Sie sagte: »Dagegen kann man was tun. Interessiert mich jetzt allerdings nicht, wer Dich verarschen will – wir müssen los!«
Dabei streckte sie mir meine Hose, gehalten an zwei spitzen Fingern, entgegen und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Ich sagte: »Was machst Du eigentlich in meinem Schlafzimmer? Du weckst noch meine Frau!«
Sie sagte: »Ach komm schon – ich bin leise. Du solltest hingegen nicht so viel Lärm machen.«
Ich sagte: »Was willst Du hier?«
Sie sagte: »Hatte ich Dir doch gerade erklärt. Wir müssen los.«
Ich sagte: »Warte einfach im Flur auf mich. Ich muss mich noch duschen und anziehen. Ich bezweifle, dass Du mir dabei zugucken willst.«
Für eine Sekunde zögerte sie. Dann zog sie die Oberlippe hoch und legte die Stirn in Falten. Solche Reaktionen hatte ich bisher nur an Frauen beobachtet, die gerade eine Ratte unter einem Tisch ihres Lieblings-Cafés gesehen hatten.
Eine halbe Stunde später – ich pflege in der Regel sehr ausgiebig zu duschen – stand ich bei Winter im Flur und sagte: »Was sollte ich anziehen?«
Sie sagte: »Da wo wir hingehen, ist es im Grunde völlig egal, was Du anziehst.«
Ich blickte sie fragend an, was dazu führte, dass sie den Kopf schüttelte und sagte: »Egal was Du anziehst, es wird auf jeden Fall unpassend sein.«
Ich sagte: »Es kann doch nicht so schwer sein, sich auf Mutter Erde einzustellen.«
Winter sagte: »Mutter Erde hat kein Lieblingswetter. Wenn sie will, kann es in einer Sekunde schneien und in der anderen die Sonne knallen. Das ist von ihrer Laune abhängig und die ist im Moment eher durchwachsen.«
Ich nickte und sagte: »Also Regenschirm, Gummistiefel und Sonnencreme.«
Winter nickte. Dann sagte sie: »Junge, nimm einen warmen Mantel mit. Man weiß ja nie. Außerdem solltest Du etwas zu Essen mitnehmen.«
Überrascht sah ich sie an und sagte: »Wie lange wird die Reise denn dauern?«
Sie sagte: »Das kann ich Dir nicht sagen. Ich war schon lange nicht da und bin mir nicht sicher, dass ich meine Mutter auf Anhieb finde.«
Das klang so, als würden wir eine zierliche Person in einem überfüllten Stadion bei dem Event: ›Treffen der größten Menschen der Welt‹ suchen. Winter sah irgendwie pessimistisch aus.
Ich sagte: »Warum muss man die Erde suchen? Wir bewegen uns doch auf ihr.«
Winter sagte: »Sie ist überall – kein Wunder, dass sie niemand findet.«
Wir saßen mittlerweile eine Dreiviertelstunde im Zug, dessen Ziel ich nicht gesehen hatte. Winter hatte mich am Bahnhof in den, aus meiner Sicht, erstbesten Wagen geschoben, der ihr in die Quere kam.
Der Schaffner war mehrmals an unserem Abteil vorbeigeeilt und ich hatte dabei immer Blut und Wasser geschwitzt. Ich hatte mich nicht um die Fahrkarten kümmern können, und soweit ich Winter kannte, würde sie niemals welche kaufen.
Winter sah mir ungerührt zu, während ich mich panisch nach der Fahrkartenkontrolle umsah. Sie sagte: »Auf was wartest Du?«
Ich sagte: »Es liegt mir nicht so, etwas Verbotenes zu tun.«
Ihre Stirn zeigte eine bemerkenswerte Wellenbewegung, was anscheinend ihrer Überraschung geschuldet war. Sie sagte: »Du scheinst niemand zu sein, der die Gefahr sucht.«
Ich sagte: »Risiko ist die eine Sache – etwas zu tun, was gegen Gesetzte verstößt, ist die andere.«
Sie sagte: »Du gehörst wahrscheinlich auch zu den Idioten, die auf ihre Platzreservierung im Kino bestehen, obwohl Zweidrittel aller Plätze frei sind.«
Ich sagte: »Soweit würde ich nicht gehen. Aber auch bei besseren freien Plätzen, würde ich mich immer auf den reservierten setzen.«
Winter verdrehte die Augen, so dass man nur das Weiße sah. Dann sagte sie: »Und warum bist Du jetzt panisch, mein Junge?«
Ich sagte: »Wir haben doch keine Fahrkarten.«
Sie sagte: »Ich hab die Bahncard und Du kannst mitfahren. Also beruhig Dich wieder, Du Weichei und versuch etwas zu entspannen. Ich kann Dir beim besten Willen nicht sagen, wann wir aussteigen müssen.«
Erleichtert lehnte ich mich zurück und war im nächsten Augenblick eingeschlafen.
Als der Zug an einem Bahnhof hielt, wachte ich auf. Winter hatte mich über ihre Brille hinweg fixiert und sah mich neugierig an.
Ich sagte: „Was wollen wir überhaupt von Deiner Mutter?“
Winter zuckte zusammen, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich so schnell zu einem Gespräch fähig war. Sie sagte: „Soweit ich weiß, geht es ihr nicht so gut. Ich wollte sie besuchen.“
Ich sagte: „Was hat sie denn?“
Winter lachte heiser und ohne Humor auf und sagte: „Das ist doch offensichtlich. Sie hat Fieber.“
Ich sagte: „Ich dachte, die Klimakonferenz hätte das Problem in den Griff bekommen.“
Sie sagte: „Die Einigung auf unter 2 °C ist ungefähr so wirksam, wie wenn man zu bremsen beschließt, wenn einem auf der Autobahn ein Lastwagen frontal mit 180 km/h entgegenkommt.“
Ich sagte: „Du meinst, dass die Katastrophe nicht mehr abwendbar ist?“
Sie sagte: „Die Autos werden immer besser. Heute hat man Airbags und Knautschzonen. Vielleicht habt ihr ja Glück und überlebt es.“
Ich sagte: „Wollen wir uns jetzt tatsächlich über den Umweltschutz unterhalten? Meinst Du nicht, dass das meine Leser langweilt?“
Sie sagte: „Du schreibst tatsächlich über das, was Dir hier passiert? Du solltest es lassen. Ein Bericht darüber, dass Du Dich mit Jahreszeiten unterhältst, kann Dich schneller in eine geschlossene Abteilung bringen, als Dir lieb ist.“
An dieser Stelle musste ich nachdenklich nicken. Vielleicht kein schlechter Einwand.
Ich sagte: »Sag mal, wann kommen wir an? Mir kommt es vor, als wären wir eine Ewigkeit unterwegs.«
Winter sagte: »Eigentlich mag ich keine Kinder, genau wegen diesen Fragen. Mein Junge, Du scheinst eine ähnliche Tendenz zu haben.«
Anscheinend sah Winter in mir ein Kind. Es sollte mich gar nicht überraschen. Schließlich nannte sie mich Junge.
Ich sagte: »Wusste nicht, dass Du Kinder besonders hasst. Bisher dachte ich, Du würdest alle Menschen gleich viel hassen.«
Winter sagte: »Mach ich auch. Da gibt es kaum Unterschiede. Egal wie alt ihr seid, ihr seit immer nervig.«
Ich sagte: »Und was ist dann mit Kinder?«
Sie sagte: »Schau Dir das doch mal an. Sie krabbeln überall hin, die meisten Eltern wissen nicht, wie man mit ihnen umgeht und dauernd geht etwas kaputt.«
Ich sagte: »Das gehört dazu. Kinder lernen, wenn sie etwas machen. So funktioniert das alles. Sicherlich hattest Du noch nie Kinder.«
Sie sagte: »Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viele ich habe. Da ist einmal mein Sohn, der nach Sibirien ausgezogen ist. Man nennt ihn da Väterchen Frost.«
Diese Information musste ich erst einmal verdauen. Diese ganzen Mythen gingen zurück auf die Kinder der Jahreszeiten? Als Nächstes erzählte sie mir noch, dass der Weihnachtsmann von ihr abstammt.
Auf die Frage nach ihm schüttelte Winter jedoch nur den Kopf. Der wäre definitiv nicht mit ihr verwandt.
Irgendwie beruhigte mich der Gedanke.
Draußen sah ich Schnee liegen, der zu beiden Seiten der Bahnstrecke einen halben Meter aufgetürmt stand. Dahinter sah ich ein Bergmassiv.
Den Wechsel in der Landschaft hatte ich nicht mitbekommen. Wahrscheinlich war ich so sehr in das Gespräch mit Winter vertieft, dass ich die Veränderungen verpasst hatte. Für einen Augenblick beschäftigte mich die Frage: Wie kommt man aus dem Flachland ganz plötzlich in die Berge, ohne es zu bemerken?
Ich sah Winter an und sagte: »Wo sind wir jetzt?«
Winter sagte: »Jetzt kommt die Neugierde zu Deinen negativen Eigenschaften hinzu.«
Ich sagte: »Du sammelst doch sowieso gerade – kleb‘ Dir die Eigenschaft einfach in das Sammelheftchen. Außerdem bin ich nicht neugierig, ich will nur alles wissen. Da besteht ein Unterschied.«
Sie sagte: »Ich halte Dich auch nicht für dumm, sondern lediglich für sehr unterbelichtet. Da besteht ebenfalls ein Unterschied.«
Ich sagte: »Sag mir noch einmal, warum Du mich mitgenommen hast.«
Sie sagte: »Reisen alleine machen mich immer depressiv. Deine Begleitung gibt mir das ständige Gefühl der Überlegenheit.«
Es hatte wenig Sinn, mit ihr weiter zu streiten. Langsam schüttelte ich den Kopf und sagte: »Meine Frage hast Du mir nicht beantwortet. Wo sind wir jetzt?«
Sie sagte: »Siehst Du das schmucke Schloss auf dem Hügel da drüben?«
Ich nickte. Plötzlich griff Winter nach ihrer Jacke und zog sich hoch. Gleichzeitig ruckelte der Zug und hielt unvermittelt an.
Sie sah mich an und sagte: »Das ist unsere erste Station. Wir müssen hier raus.«
Das Gebäude überschattete uns, wie ein Raubvogel seine Beute. Die Sonne stand so tief über den Bergen, dass sich die Umrisse der Burg tief schwarz gegen den rotgoldenen Horizont abhoben.
Zum Glück war der Weg nicht weit.
Winter schwieg die gesamte Strecke. Sie wirkte angespannt und abwesend. Ihre langen Schritte, hinterließen eine Spur im Schnee, durch die ich ihr mühelos folgte.
Erst am Eingang blieb sie stehen und sagte: »Ich bin mir nicht sicher. Das Schloss scheint verlassen. Vielleicht hat sich meine Mutter ja zu einem ihrer anderen Wohnorte begeben.«
Ich sagte: »Wir sollten wenigstens nachsehen.«
Winter nickte. Dass so etwas meine Worte auslösen konnten, hätte ich nie zu hoffen gewagt. Bisher hatte ich immer nur Kopfschütteln geerntet.
An der Pforte, die so groß war, dass ein Gespann mit vier Pferden die eine Postkutsche zogen mühelos hindurchgepasste, hang ein eiserner Ring, den Winter hochhob, um ihn anschließend fallen zu lassen. Der Lärm, der entstand, löste in den Bergen wahrscheinlich mehrere Lawinen aus.
Danach blieb sie wartend stehen. Als nach ca. 10 Sekunden nichts geschah, drehte sie sich um und sagte: »Wie ich sagte – keiner da! Wir gehen.«
Ich sagte: »Wenn das Tor schon so groß ist, braucht man länger um dahin zu kommen.«
Winter sagte: »Wir sollten weiter.«
In dieser Sekunde schwang der Torflügel auf. Hinter ihm konnte ich eine einsame Fackel sehen. Wer geöffnet hatte, war jedoch nicht zu erkennen.
Mit den Augen rollend drehte sich Winter um.
Hinter der Pforte stand niemand. Winte durchquerte den Innenhof und öffnete eine Tür, hinter der ich ein Feuer brennen sah.
Meine Neugierde zwang mich dazu, nach dem Eintritt in den Innenhof stehen zu bleiben, um mich nach dem Mechanismus, der die Tore geöffnet hatte, umzudrehen. Erwartet hatte ich schwere Ketten oder andere Mechanik. Zu erkennen war, im Schein der einsamen Fackel, hingegen nichts. Zumindest auf den ersten Blick konnte ich nichts erkennen.
Die Tür durch die Winter gerade gegangen war, fiel mit einem Knall ins Schloss.
Meine Hände wanderten über die Wand hinter den Toren. Es war alles glatt. Wie konnten diese Tore von allein aufgehen?
Irgendwie erinnerte mich das Geschehen an den Roman »Dracula«. Misstrauisch erwartete ich, dass eine zwielichtige Gestalt aus den Schatten treten würde. Wo hatte mich Winter hineingezogen? War Winter hierher gekommen um mir das Blut auszusaugen?
Die Tür öffnete sich erneut und Winter sagte: „Kommst Du jetzt? Ich hab schon Schnecken gesehen, die schneller waren als Du. Vielleicht lag das daran, dass ich sie über Nacht an einen Sportwagen festgefroren hatte, aber das spielt hier keine Rolle. Komm endlich.“
Als ich in den Raum trat, stand sie am Feuer und blickte in die Flammen.
Ich sagte: »Was passiert jetzt?«
Sie sagte: »Wir warten noch ein paar Minuten auf das Empfangskomitee.«
Ich sagte: »Irgendwie gefällt es mir hier nicht. Sie scheinen hier nicht wirklich auf Gäste vorbereitet zu sein.«
Winter lachte. Es klang in dieser Stube nicht wirklich freundlich. Mein Magen drehte sich. Eigentlich wäre ich lieber zu Hause geblieben.
Winter ließ sich in einen Sessel fallen, der nahe am offenen Feuer stand. Ich setzte mich in den danebenstehenden Sessel und blickte sie über einen kleinen Beistelltisch hinweg fragend an.
Sie sagte: »Mein Junge, glaubst Du an das Übernatürliche? Dinge, die wir nicht begreifen und fassen können?«
Ich schüttelt den Kopf und nickte anschließend. Dann sagte ich: »An das eine nein, an das andere ja.«
Sie sah mich kurz an, bevor sie sich erneut auf das Feuer konzentrierte. Abgekehrt und kopfschüttelnd sagte sie: »Was meinst Du damit?«
Ich sagte: »Mein Glaube an das Übernatürlich ist eher marginal, wenn überhaupt vorhanden. Allerdings weiß ich, dass es Dinge gibt, die ich nicht verstehe oder fassen kann. Da können wir gleich mit der allgemeinen Relativitätstheorie anfangen. Von Superstrings, die in mehr als eine Handvoll Dimensionen schwingen, möchte ich jetzt gar nicht anfangen. Und Russisch verstehe ich auch nicht.«
Diesmal bekam ich nur das vertraute Kopfschütteln und Winter sagte: »Wir Jahreszeiten sind übernatürliche Wesen. Wir können Dinge machen, die ihr nicht begreifen könnt.«
Ich sagte: »Und das hier ist Hogwarts und Du bist hier zur Schule gegangen?«
Diesmal sah sie mich an, während sie sagte: »Mach Dich nicht lächerlich. Kann sein, dass Hogwart diesen Schuppen hier als Vorbild hatte, aber dies hier ist alles andere als eine Schule.«
Ich sagte: »Wahscheinlich liegt das an dem dürftigen Lehrpersonal. Ich glaub trotzdem nicht an Magie.«
Kaum merklich erhob sie die Achseln und sagte: »Dann lass es einfach.«
Ich sagte: »Aufgrund meiner Ausbildung als Chemiker bin ich mir sicher, dass alle Dinge wissenschaftlich herleitbar sind. Sicherlich gibt es viele Bereiche, die wir noch nicht begreifen. Meist reichen dafür unsere Sinne nicht aus. Aber mathematisch lassen sich diese Sachen trotzdem herleiten.«
Winter legte die Stirn in Falten. Sie sagte: »Du begrenzt das Universum auf ein paar Regeln?«
Ich sagte: »Tut es das nicht von selbst? Alles was uns umgibt, ist mit den Grundlagen der Thermodynamik zu erklären. Enthalpie und Entropie bestimmen alle Aktionen und Reaktionen. Sie sind der Ursprung aller Handlung.«
Winter sagte: »Chaos und Ordnung, schwarz und weiß – ist das nicht zu einfach?«
Ich musst unwillkürlich lachen. Als ich mich beruhigt hatte, sagte ich: »Enthalpie und Entropie sind mehr als Gut und Böse. Außerdem braucht man beide, damit etwas passiert.
Aber wenn Du es tatsächlich darauf runterbrechen möchtest, dann sag ich ja.«
Winter schüttelte erneut den Kopf. Sie sagte: »Dann überrascht es mich, dass Du nicht religiös bist.«
Ich sagte: »Wir unterscheiden immer zwischen zwei Extremen. Dabei müssen beide zusammenkommen. Es ist Teamwork.
Sieh Dich einmal um. Enthalpie – die Kraft, der Ruhe und Energielosigkeit – würde lediglich erlauben, dass das Universum als einzelner Klumpen inerter Materie rumgammeln würde. Die Entropie – die Kraft, des Chaos – würde winzige Teilchen durch den unendlichen Raum treiben.
Arbeiten beide zusammen, dann entstehen das Leben und der ganze andere Rest.«
Winter lächelte: »Gut und Böse müssen zusammenarbeiten?«
Ich nickte und sagte: »Ja, in einem Gleichgewicht. Ich würde sie allerdings nicht Gut und Böse nennen. Das sind nur Konzepte mit denen die Menschheit sich die Realität erklären wollen.«
Winter sagte: »Wie erklärst Du Dir die Magie der Jahreszeiten?«
Ich sagte: »Erdrotation, Rotation um die Sonne und die geneigte Erdachse sind doch keine Magie.«
Winter schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Schau Dich um. Du bist an einem Ort der Magie. Außerhalb Deiner normalen Welt. Weitab von dem, was Du bisher kennst.«
Ich zuckte mit den Achseln und sagte: »Wir sind wahrscheinlich nur in einer weiteren Dimension oder irgendwo von der Zeitachse falsch abgebogen.«
Dann lächelte ich, weil ich an einen meiner Professoren denken musste.
Ich sagte: »Wir hatten einen Professor im Studium, der sich mathematisch an der Schrödinger-Gleichung vergangen hat. Das ist eine dieser Gleichungen, für die es keine echte Lösung gibt, da einem das Gesetz der Unschärferelation weniger sprichwörtlich einen Strich durch die Rechnung macht.
Er fand allerdings doch einen Weg die Formel zu knacken. Er musst die Zeit nur als mehrdimensionale Variable in die Gleichung einfließen lassen. Natürlich habe ich nicht nachgerechnet, aber die Sache hat einen logischen Haken.«
Winter gähnte ausgiebig. Das war eins der Zeichen, dass ich mal wieder zu viel Wissenschaft auf meine Zuhörer losgelassen hatte. Natürlich weiß ich, dass ich fast jedes Lebewesen mit diesem Thema in den Schlaf wiegen kann. Trotzdem wollte ich mich nicht ablenken lassen.
Ich sagte: »Eine mehrdimensionale Zeit erlaubt, dass man an zwei Punkten zur gleichen Zeit ist. Gleichzeitig wird ein Transport von Materie von einem Punkt zum nächsten, ohne dass dabei Zeit vergeht, theoretisch möglich. Wir sprechen hier vom Beamen – Mathematisch kein Problem.«
Winters Augen sahen mich schläfrig an. Sie sagte: »Denk doch was Du willst. Aber sag mir hinterher bitte nicht, dass ich Dein Weltbild gestört hätte.«
Ich sagte: »Ich glaube nicht, dass Du das schaffst.«
Eine schwere Holztür öffnete sich und ein Mann trat herein. Er hatte weiße, lange Haare, die er sich adrett nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Insgesamt hatte die Erscheinung etwas von den Typen, die geistig und körperlich in den 70gern hängengeblieben waren.
Ich sagte zu Winter: »Oh Prima, Dumbledore ist da! Anscheinend hat er uns endlich gefunden.«
Winter verdrehte ihre Augen und erhob sich vom Sessel. Etwas leiser, so dass uns der Hipster-Opa nicht hören konnte, sagte sie: »Habe etwas mehr Respekt vor dem Alter.«
Ich sagte: »Wenn er das auch hat, dann werde ich mein Möglichstes tun.«
Ein schwaches Grinsen konnte ich hingegen nicht unterdrücken. Es war mir immer ein Vergnügen Winter zu ärgern. Dieser Besuch in dem alten Schloss konnte man anscheinend prima dazu nutzen.
Der coole Greis sagte Hallo und ich hätte fast laut gekichert, als ich eine Sonnenbrille oberhalb seiner Stirn erblickte.
Winter sagte: »Bitte entschuldige meine Begleitung. Ich hatte nicht gedacht, dass er sich so daneben benimmt.«
Ich sagte: »Das hier entspricht wirklich jedem Klischee. Altes Schloss, alter Mann – womit muss ich noch rechnen?«
Winter schüttelte energischer das Haupt und machte mir mit einer Handbewegung klar, dass ich jetzt ruhig seien sollte.
Sie sagte: »Ich suche meine Mutter Gaia. Ist sie hier?«
Der Alte sagte: »Sie ist vor ein paar Tagen aufgebrochen. Ich hatte ihr noch gesagt, sie solle besser hierbleiben – es ging ihr wirklich nicht gut – aber sie ließ sich nichts sagen.«
Winter sagte: »Wenn Du sie vor mir triffst, dann richte ihr bitte aus, dass ich nach ihr suche.«
Der Alte nickte und Winter drehte sich um.
Sie sagte: »Wir sollten zurück zum Zug. Hoffentlich finden wir meine Mutter in einer ihrer anderen Wohnungen.«
Im Zug angekommen fragte mich Winter, welche Art von Musik ich bevorzugen würde. Ich sagte, dass ich sehr gerne Rock-Musik höre. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schmunzelte.
Irgendwie hatte sie ihre Selbstgefälligkeit und natürliche Arroganz zurückgewonnen, die sie vorher kurzzeitig verloren hatte.
Natürlich wollte ich nicht so schnell vor die neue Wand laufen, die sie um sich aufgebaut hatte. Diese Wand würde selbst eine Dampfwalze nicht zum Einsturz bringen und mein Wunsch nach einer blutenden Nase war fürs Erste gedeckt.
Ich sagte: »Warum hat der Zug überhaupt für uns gehalten? Hätte er nicht schon losfahren müssen?«
Winter ließ ihre Augen irgendwo über meinem Kopf verweilen und sagte: »Jede andere Musik hätte mich jetzt überrascht. Du bist sowieso der Soft-Rock-Typ.«
Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Diese menschgewordene Pfeile schien sich durch alle meine Nerven zu hobeln. Noch hatte ich nicht das Pfeil-Fett gefunden, die sie stumpf werden ließ.
Ich sagte: »Eigentlich dachte ich an härtere Musik oder sogar Gothik. Außerdem höre ich Hip-Hop und Pop Musik. So gut wie alles was kommt, aber vorzugsweise harte Rockmusik.«
Sie lächelte weiter und schwieg.
Ich sagte: »Was ist denn jetzt mit dem Zug?«
Sie sagte: »Alle Räder stehen still, wenn die liebe Winter das so will. Du kennst doch die Bahn. Die fährt nur zwischen 5 und 20 Grad. Alle anderen Temperaturen verkraften die Klimaanlagen nicht.«
Winter blickte weiter in die Landschaft, als wäre sie auf der Fahrt völlig alleine. Ein paar Stunden machte mir das nichts aus, da ich meine eigenen Gedanken sortierte.
Das Schloss hatte viele komische Emotionen in mir geweckt. Außerdem nagte an mir die Frage, ob es nicht doch etwas Magisches, außerhalb der wissenschaftlichen Welt geben könnte.
Nachdem ich diese Gedanken zurückgedrängt hatte, sah ich Winter dabei zu, wie sie mit eingefrorenem Blick vorwärts guckte. Sie erinnerte mich ein wenig an einen ausgeschalteten Computer. Ihre Augen schienen sich auf etwas außerhalb ihres Blickfeldes fixiert zu haben.
Ich sagte: »Eigentlich wäre es doch ideal, wenn wir alle wesentlich oberflächlicher wären.«
Winter kam in die Realität zurück, wie ein altes Motorrad mit Fehlzündungen. Sie sah mich fragend an und sagte: »Was meinst Du denn jetzt damit?«
Ich sagte: »Stell Dir vor, Du hättest nur das eine Problem – ›Welcher Lippenstift passt zu den Schuhen?‹. Wäre das nicht großartig?«
Winter sah mich immer noch so an, als hätte man sie gerade aus einem 7 monatlichen Schlaf, mit einer Ohrfeige geweckt.
Ich sagte: »Als Mann hätte ich nur das Problem – ›Wird meine Fußballmannschaft siegen?‹. Diese riesigen Herausforderungen sind ganz leicht zu befriedigen und man wäre fast ständig glücklich.«
Winter zuckte mit den Schultern und sagte: »Das klingt eigentlich sehr vernünftig. Ich bin mir sicher, dass Du auf dem besten Weg dahin bis. Wenn Du es erreicht hast, dann sag mir bitte Bescheid. Ich werde Dich dann aus dem Fenster werfen, sobald der Zug über eine hohe Brücke fährt. Keine Angst ich achte darauf, dass unter der Brücke kein Fluss ist. Wir wollen doch beide nicht, dass Du Dich nassmachst.«
Dann drehte sie sich erneut weg und verstummte.
Ich musste nur kurz eingenickt sein.
Eigentlich erinnerte ich mich nicht daran, geschlafen zu haben, aber als ich aufsah, legte Winter auf dem Tisch vor sich eine Séance mit ihren Kredit- und Bonuskarten.
Als ich hochfuhr, blickte sie mich erneut über den Rahmen ihrer Brille an. In diesem Blick lag etwas Fixierendes, als hätte sie mich gerade gereinigt, sterilisiert und in ein Briefmarkenalbum geklebt.
Sie sagte: »Diese ganzen verdammten Karten, die man bekommt, sind doch das Letzte.«
Ich sagte: »Es scheint, als würdest du in ihnen die Zukunft lesen.«
Sie lachten ohne Humor in der Stimme auf, so als wollte sie mir zeigen, wie unlustig sie die Bemerkung fand. Dann wandte sie sich wieder ihren Karten zu.
Sie sagte: »Betreffend der Karten, kann ich nur sagen, dass Dein Budget überschritten ist und der einzige Hoffnungsschimmer für mich, Dein Tod sein wird.«
Ich sagte: »Wann der eintritt, kannst Du mir aber nicht sagen?«
Sie sagte: »Würdest Du das wirklich wissen wollen?«
Ich sagte: »Eigentlich nicht. Es gibt da ja genügend Witze – wie der, mit dem Typen, bei dem man den Todestag des Vaters vorhersagte.«
Winter nickte, blickte erneut auf die Karten und sagte: »Dann macht sich der Vater einen höllischen Tag und kommt am Abend scheißgebadet nach Hause. Auf der Türschwelle ruft er seiner Frau entgegen, dass das sein blödester Tag gewesen wäre und seine Frau sagt nur…«
Ich unterbrach Winter und sagte: »Wenn Du doch den Witz kennst, dann hätte ein simples Nicken genügt.«
Ohne aufzublicken sagte sie: »Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.«
Ich sagte: »Willst Du ihn dann zu Ende erzählen?«
Sie sagte: »Jetzt hab ich auch keine Lust mehr. Außerdem kenne wir ja beide das Ende.«
Winter sagte, dass wir Deutschen die Tendenz haben, so gut wie Alles zu übertreiben.
Sie sagte: »Eure gesamten Regeln und Gesetzte, bringen mich regelmäßig auf die Palme. Was meint ihr eigentlich damit zu erreichen?«
Ich sagte: »Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch tief in sich das Übertreiben liebt. Wir Deutschen leben diese Vorliebe nur offen aus.«
Winter sagte: »Das ist nicht der Punkt. Ich glaube, dass ihr bald eine Regel zu Ausrottung von Schmetterlinge erlassen werdet, nur um Wirbelstürme in Japan zu verhindern.«
Für einen Moment blieb ich still. Viele Regelungen gingen in ähnliche Richtung. Wir verbieten etwas Naheliegendes und hoffen damit, ganz andere Probleme zu lösen. Wie zum Beispiel das Verbot von Kampfhunden. Ob man damit Kinder besser vor boshaften Monstern geschützt hatte, gilt zu bezweifeln. Schließlich hatten die Kampfhundbesitzer die Hunde nicht auf Kinder abgerichtet und viele Schäferhundbesitzer haben ihre Köter auch nicht richtig unter Kontrolle. Eigentlich hätte man alle Hunde verbieten müssen die größer als Ratten sind.
Genauso würde ein Verbot einer rechten Partei nicht vor dem dazugehörigen Gedankengut schützen. Da müsste man schon alle Bretter vor den Köpfen abreißen oder einen mindest  IQ für öffentliche Äußerungen und für Wahlen  einführen.
Allerdings gefiel mir die Idee von Winter.
Ich sagte: »Wenn wir damit Wirbelstürme effektiv bekämpfen können…«
Winter sagte: »Ich finde Dir noch einen Wissenschaftler, der das belegt.«
Ich sagte: »Damit würdest Du viele Deutsche glücklich machen.«
Sie sagte: »Man muss euch nur auf dumme Ideen bringen und ihr schaffte es, die dumme Idee noch zu überbieten.«
Winter sagte: »Das Schlimmste an der Unsterblichkeit, sind die ständigen Wiederholungen. Dabei glaubt jede Generation ihre Probleme gerade zum ersten Mal zu bewältigen. Das ist so lachhaft und blödsinnig. Immer wenn ich es euch sage, wollen ihr es nicht hören.«
Ich sagte: »Was meinst Du denn jetzt?«
Sie sagte: »Schau Dir mal die Geschichte an. Bleiben wir, nur um ein wenig Überblick zu behalten, im letzten Jahrhundert.
Die 20ger waren aufgeschlossen und toll. Die 30ger und 40ger hatten einen Stock im Arsch. Danach ging es aufwärts, bis dann am Ende der 50ger der Stock wieder zurück war. Die 60ger lebten dann die Revolution.
Heute erfindet ihr die Spießigkeit als Tugend und glaubt, dass ihr damit ein Novum erschafft. Dabei macht ihr nur das rückgängig, gegen das die letzte Generation so glorios gekämpft hatte. In ein paar Jahren empfindet ihr ein Volksmusikfest für das Maximum der Dekadenz und vergesst, dass eure Großeltern noch mit Orgien den Umschwung feierten.
Andere Länder sind nicht anders. Im Nahen Osten wurde die offenherzige und unreligiöse Art der Eltern gegen den religiösen Fundamentalismus getauscht, in dem Glauben, dass dieser unüberwindbar und ewig dauert. In einem Jahrzehnt werden die Kinder dieser Generation die Zwangsjacke ihrer Eltern abgestreift haben. Deren Kinder werden dann erneut konservativ und so weiter.
Immer wieder dreht sich das Rad und immer wieder seid ihr überrascht, dass ihr gerade oben oder unten seid. Und ewig jammert ihr!
Warum lernt ihr nicht dazu?«
Ich sagte: »Sorry, hatte Dir gerade nicht zugehört. Was hast Du gesagt?«
Dass der Zug so plötzlich anhielt, riss mich aus meinen Gedanken. Der Blick nach draußen zeigte ein einzelnes Hochhaus, welches ziemlich verloren in einer kargen Landschaft stand. Aus einem Gefühl heraus, hätte ich schwören können, dass wir vor ein paar Momenten eine andere Umgebung durchfahren hatten.
Winter lächelte, als hätte man ihr gerade den Kopf eines Heiligen zum Frühstück serviert. Sie erhob sich und glitt durch den Wagon. Schwerfällig folgte ich ihr.
Erst an der Tür, welche sich zu einem braunen Rasen öffnete, konnte ich sie einholen. Sie blickte auf das Hochhaus und sagte: »Hier war Mutter schon lange nicht mehr.«
Ich sagte: »Sieht auch nicht besonders natürlich aus. Das Ding wirkt wie ein Riese in einer Badwanne – ziemlich fehl am Platz, wenn Du mich fragst.«
Winter sprang von der letzten Stufe auf den Rasen und sagte dabei: »Sind Menschen nicht auch natürlich?«
Sie wartete weder auf meine Antwort noch auf mein Erscheinen, als sie sagte: »Die Dinge, die vom Menschen gebaut wurden, betrachtet Mutter genauso als Natur, wie auch alle Sachen, die schon vorher da waren.«
Mein Atem ging schwer, während ich sie einzuholen versuchte. Ich sagte: »Was ist denn Deine Meinung?«
Sie sagte: »Sobald ihr verschwunden seit, wird alles sehr schnell wieder aussehen wie vorher. Ihr seid doch nur ein Fliegenschiss auf der Windschutzscheibe der Zeit.«
Winter erreichte die Eingangstür bestimmt zwei Minuten vor mir. Wie sie es auf diese verdammte Geschwindigkeit bringen konnte, war mir unerklärlich. Außerdem hatte ich noch nie erlebt, dass sie es so eilig hatte.
Anscheinend war irgendetwas an dem Gebäude, was sie magisch anzog.
Als ich die Tür öffnete, wurde mir schlagartig schwindelig. Hier drin tobte eine Party, die schon seit einiger Zeit in vollem Gang zu sein schien. Einen Überblick konnte man sich auf den ersten Blick nicht machen. Der zweite Blick verriet, dass man sich dringend ein Bier greifen sollte. Jeder kennt das Gefühl, zu spät angekommen zu sein – man ist der Einzige der nicht blau ist. Die Situation kann sehr peinlich werden.
Es herrschte Chaos. Ein Betrunkener schwankte an mir vorbei. Nur mit einem Sprung zur Seite konnte ich der schwankenden Bierflasche in seiner Hand ausweichen, die haarscharf an meinem Kopf vorbeischrammte.
Hinter einer Gruppe von merkwürdig gekleideter Besuchern, die so aussahen, als hätte man sie aus einem Testlabor für Farbgestaltung rausgeworfen, konnte ich ein Teil von Winters Kleid durch die nächste Tür entweichen sehen.
Insgesamt musste ich noch drei weiteren Flaschen Bier ausweichen, bis ich die Tür erreicht hatte.
Winter stand im Raum und betrachtete das Schauspiel, welches sich hier bot. Der Boden des Raums war kniehoch mit Wasser geflutet. Von der Tür aus, führte eine schmale Treppe nach unten ins Wasser.
Überall schwammen Luftmatratzen mit Partygästen. Ein Netz aus leeren Bierflaschen und Zigarettenstummeln hatte sich in den Ecken gesammelt. Man konnte kaum sein eigenes Wort verstehen. Aus Boxen aus der Decke wurde laute Musik auf die Besucher gepumpt.
Ich musste schreien, um mich verständlich zu machen. Ich sagte: »Das ist eine Party von Deiner Mutter?«
Winter sagte: »Sie mag Spaß.«
Sie drehte sich herum und ging in die Gegenrichtung.
Einholen konnte ich Winter erst in einem Treppenhaus. Sie stand auf der zweiten Stufe, sah fragend nach oben und wartete auf irgendetwas.
Ich sagte: »Prüfst Du die Luft oder ist Dir die Energie ausgegangen?«
Winter ignorierte mich. Wir stand eine halbe Ewigkeit auf der Stelle, ohne dass etwas passierte.
Das Treppenhaus bestand aus kargem Beton, ohne irgend einer Verkleidung oder Dekoration. Im Gegensatz zu dem Chaos dass in den Räumen herrschte, die ich vorher durchquert hatte, war dies hier eine Oase der Ruhe und Ordnung.
Über uns konnte ich ein paar Fenster erkennen, in den ersten zwei Stockwerken gab es jedoch nur nackte Neonröhren, die an den Wänden hingen. Die Luft schmeckte staubig und roch metallisch.
Ich versuchte Winters Blick zu fangen, konnte in der Höhe jedoch nichts erkennen.
Winter drehte sich zu mir und sagte: »Ich kann meine Mutter nicht finden. Vielleicht ist sie in einer der oberen Etagen.«
Ich sagte: »Kannst Du mir bitte sagen, wo wir hier sind?«
Winter sagte: »Meine Mutter liebt das Chaos. Nebenbei liebt sie auch Parties. Das liegt nahe beieinander.«
Ich sagte: »Bisher habe ich die Natur eigentlich als hochkomplex angesehen.«
Winter zuckte mit den Achseln und sagte: »Ist das nicht das Gleiche?«
Ich sagte: »Und was ist hier?«
Winter sagte: »Wir müssen hoch.«
Während wir die Treppen hinaufgingen, sagte ich zu Winter: »Das mit dem Chaos beschäftigt mich. Ist da draußen alles geplant oder durch Zufall entstanden?«
Winter lachte kurz auf und sagte: »Die alte philologische Frage, die schon Generationen beschäftigt.«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Wenn Menschen, wie Ingenieure oder Programmierer, etwas planen und erschaffen, dann lassen sie immer Raum für Anbauten. Es gilt als wichtigste Pflicht immer Plätze für spätere Erweiterungen freizulassen.
Wenn ein Objekt jedoch wächst, sei es z.B. ein Programm oder ein Bauwerk, ohne dass eine Planung  vorliegt, dann werden keine Anbaumöglichkeiten zu finden sein. Ein Erkennungsmerkmal für etwas Gewachsenes, sind Artefakte, die keinerlei Funktion mehr erfüllen. Vieles überlebt sich während der Entstehung.
Ein Beispiel ist die folgende Geschichte.
Nachdem ein kleines Kind die alten Disketten des Vaters fand, ging es zu ihm und sagte: ›Cool, Du hast das Speichern-Symbol in 3D ausgedruckt!‹.
Das Symbol ist noch da, aber die dazugehörige Technik ist verschwunden, weil das System gewachsen ist.
Die Frage ist, findet man die Erweiterungsmöglichkeiten oder findet man Artefakte, die keine Funktion mehr erfüllen?«
Ich überlegte kurz und sagte: »Weisheitszahn und Blinddarm deuten wohl eher auf Artefakte hin, die keinerlei Funktionen mehr haben.«
Winter nickte.
Wir kamen in der 4. Etage an und Winter öffnete die Tür.
Winter öffnete die Tür nur kurz, streckte ihren Kopf in die entstandene Öffnung, zog ihn wieder hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie sah mich an und sagte: »Mutter ist nicht da.«
Ich sagte: »Wie willst Du das wissen, wenn Du nicht einmal rein gehst?«
Winter sagte: »Wir Naturkräfte spüren einander. Wir wissen, ob wir uns nähern.«
Ich sagte: »Ist das der Grund, warum selten mehr als eine Katastrophe gleichzeitig eintritt?«
Sie ignorierte meinen Witz geflissentlich und betrat die erste Treppenstufe nach oben.
Innehaltend deute sie mir an, leise zu sein.
Hier im Treppenhaus hätte man eine Stecknadel fallen hören. Kurzfristig versuchte ich, mein Atmen zu unterdrücken, was mir allerdings nur kurz gelang.
Winter sagte: »Meine Mutter ist nicht hier. Ich kann sie in diesem Gebäude nicht ausmachen. Wir sollten weiter fahren.«
Ich sagte: »Was ist das hier? Das ist doch kein normales Gebäude oder?«
Winter grinste. Sie sagte: »Ich dachte, Du glaubst nicht an Magie!«
Ich sagte: »Zumindest kann ich mir das hier nicht erklären.«
Winter sagte: »Meine Mutter hat die Fähigkeiten, mit Raum und Zeit zu spielen. Das hier ist ein Haus voller Parties. Nicht eine große, sondern viele kleine, die irgendwo und irgendwann auf der Erde gefeiert wurden.
Je weiter Du nach oben kommst, desto weiter liegen diese Feiern in der Vergangenheit. Ganz oben sind die alten Ägypter. Kein schöner Ort, wenn Du mich fragst. Zu viele Spiele unter Beteiligung von Sklaven und Tieren.«
Winter ging die Treppe runter und ich folgte ihr. Ich sagte: »Fahren wir weiter?«
Winter sagte: »Das sollten wir.«
Es dauerte, bis wir am Zug waren. Bemerkenswerter Weise wartete dieser die gesamte Zeit auf uns.
Als wir zurück im Abteil waren, sagte ich: »Wie viele Wohnungen von Natur müssen wir noch aufsuchen?«
Winter schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann sagte sie: »Ich glaub, dass aller guten Dinge drei sind.«
Ich grinste und sagte: »So wie bei den Jahreszeiten?«
Das Gesicht von Winter verfinsterte sich. Sie sagte: »Ich habe keine Lust, mich durch all die Behausungen meiner Mutter zur quälen. Eigentlich hat sie nur ein paar, die sie häufiger frequentiert.«
Ich sagte: »In Romanen und Filmen ist es üblich, dass der Held ein paar mal scheitert, bis er endlich zum Ziel kommt. Diese sogenannten ›Try-Fail-Cycles‹ sind das Salz jeder guten Geschichte.
Allerdings streiten sich die Gelehrten darüber, wie oft der Held scheitern muss. Einige schwören auf drei, andere auf vier Mal und einigen kann es gar nicht oft genug sein. Schließlich lassen sie den Helden so sehr daran zerbrechen, dass das Scheitern vorprogrammiert zu sein scheint und dann klappt es plötzlich doch noch.
Das Scheitern ist aber ein wichtiger Schritt und sollte niemals ausgelassen werden.«
Winter sagte: »Mir reichen zwei Mal. Das Dritte muss klappen. Ich habe wirklich keine Energie das länger durchzustehen.«
Ich sagte: »Trotzdem solltest Du doch davon reden, dass alle guten Dinge vier sind.«
Winter sagte: »Spare Dir Deine guten Ratschläge.«
Ich hatte es mir gemütlich gemacht. Bahnsitze können sehr komfortabel sein, wenn man weiß, wie man sie richtig einstellt. Aus meiner Ecke beobachtete ich Winter, die mir gegenüber saß. Ich sagte: »Gute Ratschläge sind das Einzige, was man ungefragt und im Überfluss bekommt.«
Winter nickte und sagte: »Es gibt bestimmt noch mehr Dinge, die man auf diese Weise erhält, aber gute Ratschläge sind auf jeden Fall das Nervigste.«
Ich sagte: »Besonders lustig sind diese Ratschläge, wenn man irgendwo mit kleinen Kindern auftaucht. An der Kasse hat man im Wagen ein schreiendes Kind sitzen und die nette ältere Dame, die hinter einem darauf gelauert hat, sagt: ›Was hat die Kleine denn? Bestimmt hat sie Hunger. Sie müssen sie füttern!‹
Auf diesen Hinweis gab es bei mir nur ein Erwiderung: ›Kann nicht sein, hab die Kleine gestern erst gefüttert. Müsste noch voll sein.‹
Oder die Kassiererin die, nachdem ich ihr beichtete, dass ich eigentlich mit Kind da wäre, dass mir allerdings gerade entflohen ist und deshalb schnell bezahlen wollte nur sagte: ›Wie können sie ihr Kind nur aus den Augen lassen? Das geht gar nicht – es könnte doch geklaut werden.‹
Ich sagte dazu: ›Glauben sie mir, ich habe das schon mehrmals ausprobiert, aber das Kind will keiner haben. Außerdem ist zu Hause noch eins. Eins von zwei ist doch auch keine schlecht Quote.‹«
Winter sah mich ruhig an und sagte: »Du schlägst netten beunruhigten Menschen immer gerne eins vor die Nase, oder?«
Ich sagte: »Manchmal lässt sich das nicht vermeiden.«
Ich sagte: »Wer war eigentlich der alte Knacker im Schloss? Ist der mit euch verwandt?«
Winter schaute weiter aus dem Fenster und schien mich zunächst nicht zu beachten. Da ich dieses Verhalten schon kannte, wartete ich geduldig.
Irgendwann sagte sie: »Warum interessiert Dich das plötzlich? Als wir da abgehauen sind, war er Dir egal.«
Eigentlich hatte sie recht. Die Reise weckte meine Neugierde. Winter war mir bisher nur als boshafte, arrogante und ziemlich eitle Dame begegnet. Mit jedem Halt und jeder merkwürdigen Tat, wurde sie für mich interessanter.
Was ging in ihrer Welt vor? Was trieb sie an?
Winter schüttelte den Kopf und sagte: »Der Alte ist schon sehr lange in unserem Dienst. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann er anfing für uns zu arbeiten.«
Ich sagte: »Dann ist er auch ein Unsterblicher?«
Winter lachte heiser auf. Sie schüttelte erneut den Kopf, blickte mich allerdings nicht einmal an.
Draußen zog eine weitere Stadt an uns vorbei, wie ein Landstreicher an einem Möbelladen. Irgendwie ähnelten sich all die Umgebungen und wurden immer mehr zu einem Hintergrundrauschen.
Winter sagte: »Wenn jemand in unserem Dienst steht, dann lebt er außerhalb der Zeit.«
Ich sagte: »Ihr könnte Leute unsterblich machen?«
Winter sagte nichts mehr. Ihr Mund hatte sich zu einem stillen Lächeln verzogen. Die Augen blitzten jedoch, wie zwei silbrige Kugeln in Pistolenläufen.
Noch bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde der Zug langsamer. Das Bremsen erhob mich ganz leicht aus dem Sitz.
Winter sah mir in die Augen und sagte: »Alle guten Dinge sind drei.«
Ich sagte: »Mach Dir nicht zu große Hoffnungen. Wenn man etwas sucht, findet man es in der Regel nicht so schnell.«
Winter sah mich an. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt. Diesmal war ich mir keiner Schuld bewusst.
Mit den Achseln zuckend sagte ich: »Es ist nicht gut, wenn man sich zu viel Hoffnung macht.«
Sie sagte: »Ich mache weder mir noch jemand anderen Hoffnung. Wenn meine Mutter nicht hier ist, dann gehe ich davon aus, dass sie nicht gefunden werden will und breche die Suche ab.«
Ich sagte: »Das kommt mir irgendwie nicht richtig vor. Wenn man etwas wirklich will, sollte man mehr als nur drei Versuche in Kauf nehmen.«
Während sie sich erhob, sagte sie: »Aus Prinzip gebe ich nur drei Warnungen. Wer diese drei Warnungen ignoriert, muss mit den Konsequenzen leben. Schließlich bin ich nicht die Wohlfahrt.«
Ich sagte: »Das sehe ich ähnlich. Wer es bis dahin nicht hören wollte, der wird es auch nach dem zehnten Mal nicht hören. Das sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe. Wenn man verstecken spielt, dann sollte man suchen.
Wer nur ein paar Runden aushält, ohne die Leute gefunden zu haben, der hat verloren.«
Winter sah mich sehr ernst an und sagte: »Ich werde meine Mutter niemals gewinnen lassen.«
Ich sagte: »Das ist die Einstellung, die ich hören wollte!«
Das Meer war so nah, dass man aus dem Abteil direkt hätte hineinspringen können.
Es schwappte zu allen Seiten, als wäre es in einem Glas gefangen, welches man auf die Mittelkonsole eines Rennwagens gestellt hatte. Weiße Gischt tanzte auf den Gipfeln der kleinen blauen Berge.
Am hinteren Teil der Schotterstrecke, die hier für den Aussteigen ausreichte, stand eine kleine graue Hütte. Die meisten Nägel, die die Bretter früher zusammenhielten, waren schon vor einigen Jahren durchgerostet.
Einige Bretter standen wie von Zauberhand in der Luft, andere fehlten. Die Tür hing nur noch in einem Scharnier und hatte sich oben vom Rahmen getrennt.
Winter ging zielstrebig auf die Hütte zu.
Ich sagte: »Habt ihr da drin euren Rasenmäher vergessen? Oder brauchst Du einen Besen, um weiter zu reisen?«
Winter sagte über ihre Schulter: »Mach Dich nicht lächerlich. Das mit dem Besen ist eine ganz andere Geschichte.«
Ich sagte: »Was meinst Du?«
Sie sagte: »Niemand ist wirklich jemals auf einem Besen durch die Luft geflogen. Die kräuterkundigen Damen in alten Zeiten, haben die Besenstiele mit Essenzen getränkt und haben die Dinger dann rektal eingeführt. Soweit ich mich erinnern kann, hatten sie dabei und nachher ziemlich viel Spaß. Sie waren so high, dass die Leute sagten, sie würden fliegen. Wirklich abgehoben sind sie dabei aber nie.«
Ich sagte: »Das erklärt nicht meine Andeutung, dass Du auf eine verdammt kleine Bude zusteuerst. Oder sehe ich Dein echtes Ziel noch nicht.«
Winter sagte: »Du wirst Dich wundern, wenn wir da sind.«
Als ich hinter Winter den Raum betrat, verschlug es mir die Sprache. In der Fläche hätte man einen gesamten Fußballplatz unterbringen können. Winter lächelte mich an, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen, und wollte mir unter die Nase reiben, dass sie nichts von dem Geld abgeben würde.
Sie sagte: »Na überrascht?«
Ich sagte: »Das Ding ist von innen tatsächlich größer!«
Das Lächeln wurde noch eine Idee breiten, wenn das überhaupt noch ging. In der Pose hätte sie eine Banane quer essen können. Intuitiv ballte ich die Fäuste. Wenn sie nicht gleich mit dem Grinsen aufhören würde, könnte sie sich ein paar Sprüche von mir einfangen.
Auf einmal zuckte Winter zusammen. Sie sagte: »Irgendjemand ist hier. Das kann ich spüren.«
Eine tiefe Männerstimme erklang aus der Ferne. Mit zusammengekniffenen Augen, konnte ich in einer Tür am anderen Ende des Raums einen Mann sehen. Er winkte Winter zu.
Augenblicklich war das Lächeln aus dem Gesicht verschwunden. Es kam mir so vor, als würde Winter etwas runterschlucken. Dann verdrehte sie die Augen und sagte: »Was machst Du denn hier Vater?«
Überrascht drehe ich mich zu ihr um. Ich sagte: »Dein Vater ist hier?«
Sie sagte: »Da ist ein Typ, der so wie er aussieht, sich so wie er anfühlt, sich so wie er benimmt und der so wie er redet. Die Chancen stehen gut, dass er es auch ist.«
Ich sagte: »Cool!«
Winter wirkte so, als müsste sie dringend auf Toilette. Sie pendelte von einem auf das andere Bein, drehte sich einmal hierhin einmal in die andere Richtung.
Ich sagte: »Wow – ich kenne kaum jemand, der sich so offensichtlich freut, seinen Vater zu treffen.«
Winter sagte: »Mit einem Golfball mitten zwischen die Beine würde ich ihn viel lieber treffen.«
Meine Miene verfinsterte sich. Ich sagte: »Was hat er gemacht?«
Winter sagte: »Halb so wild – er hat mich nur pausenlos blamiert und verarscht. Man hat das Gefühl, dass er Nichts ernst nehmen kann.«
Ich sagte: »Scheint eine Grundvoraussetzung für einen Luftikus zu sein.«
Winter sagte: »Er hätte sicherlich seinen Grund, ein wenig ernsthafter zu sein.«
Ich sagte: »Wie nenne ich ihn überhaupt?«
Winter sagte: »Im Altertum war er Luft. Heute gefällt ihm der Name Atmosphäre sehr. Wenn ich Du wäre, würde ich einfach ›Sie‹ zu ihm sagen.«
Der Mann hatte immer noch nicht die Hälfte des Raums erreicht. Langsam konnte ich Einzelheiten ausmachen.
Er sah so aus, als hätte man auf seinem Oberköper eine Büste eines bekannten klassischen Komponisten geklebt. Seine Haare waren schneeweiß und standen zu Büscheln zu allen Seiten des Kopfes ab. Im Gesicht trug er ein breites Lächeln.
Sein Körper war mager – fast zu dünn. Die Arme und Beine ragten wie kleine Zweige aus dem Stamm einer 100 jährigen Eiche. Der schwarze Anzug mit Krawatte und die schwarzen Lackschuhe komplettierten das Bild.
Seine Stimme war nur ein leises Flüstern, als er sagte: »Hallo mein Schätzchen«. Dabei schauten seine Augen über die Brille auf seiner Nase, wobei das Nasenfahrrad so aussah, als hätte er es John Lennon geklaut. Ich bin mir fast sicher, dass solche runden Gläser nicht mehr produziert werden. Gleichzeitig wusste ich, von wem sich Winter ihre komische Eigenheit mit dem ›Über-Die-Gläser-Meiner-Brille-Gucken‹ abgeschaut hatte.
Winter sah genervt aus. Ihre Mimik hing ihr bis auf das Kinn. Insgesamt vermittelte sie den Eindruck einer Frau, die schon eine halbe Stunde auf den verspäteten Bus gewartet hatte.
Sie sagte: »Hallo Vater. Ich wünsche Dir auch ein frohes und gesundes neues Jahrtausend. Hoffe, Du bist gut reingekommen.«
Ihr Vater lächelte und nickte. Dann wedelte er mit seiner Hand in meine Richtung.
Aus der Bewegung wurde ich nicht recht schlau. Es erinnerte mich irgendwie an den Film ET, obwohl mir die Handlung nur noch schemenhaft im Kopf geblieben ist.
Es war höchst wahrscheinlich, dass Winters Vater mich auf irgendeine Weise begrüßen wollte. Wo er diese Begrüßung jedoch her hatte, wusste nur der Wind.
Über diesen Wortwitz lächelnd sagte ich: »Es ist mir eine Ehre sie kennenzulernen.«
Der Vater wandt sich erneut an die Tochter und sagte, kaum hörbar: »Wer ist denn der komische Neue?«
Winter blickte mich an, als wäre ich der Schmutz unter ihren Schuhen, drehte sich erneut um und sagte: »Den hat mir Herbst angeschleppt.
Wenn man ihm Zeit gibt, kann man sich glatt an ihn gewöhnen – genauso wie man sich an ein Leben ohne Gallenblase gewöhnt.«
Winters Vater klappte der Mund auf, als wolle er eine Salatgurke in einem Stück in seiner Kehle verschwinden lassen. Winter wartete nicht auf seine Antwort. Sie ging an ihm vorbei und sagte: »Ich bin auf der Suche nach Mutter. Ist sie hier?«
Erneut war die Antwort kaum zu hören. Für mich hatte es etwas befremdliches, dass man das Wort zwar kaum wahrnahm, den Inhalt der Worte jedoch klar verstehen konnte.
Er sagte: »Sie ist nicht hier. Sie wollte nicht bleiben. Als sie da war, war sie nicht länger als 30 Minuten hier. Dann hat sie ein paar Sachen gepackt und ist verschwunden.«
Winter sagte: »Wann ist sie los?«
Luft sagte: »Vor einem Tag.«
Winter hielt inne. Sie stand mit dem Rücken zu ihrem Vater und wirkte, wie ein Hund, der die Witterung eines anderen Tieres wahrgenommen hatte.
Sie sagte: »Es ist doch noch jemand da? Wer ist in Deinem Schlafzimmer?«
Luft war auf einmal sehr schnell. Er baute sich so eilig vor Winter auf, dass ich nicht verstand, wie er dort hingekommen war. Diesmal waren seine Worte einen Tick lauter.
Er sagte: »Hier ist niemand.«
Winter schob ihn mit der flachen Hand beiseite und eilte durch den riesigen Raum. Als sie bei der Tür war, aus der Luft vorher entwichen war, öffnete sich diese, ganz wie von selbst.
In der Öffnung stand eine Blondine. Auf den ersten Blick sah ich ihre blauen Augen. Sie waren so hell, dass sie in den dunklen Raum strahlte. Sie hatte ein breites, entwaffnendes Lächeln auf dem Gesicht. Ansonsten war sie allerdings nur sehr spärlich bekleidet.
Winter wirbelte zu ihrem Vater und baute sich direkt vor ihm auf, so dass sich ihre Nasen fast berührten. Sie sagte: »Schon wieder Vater? Ich dachte, die Phase mit Meer hättest Du hinter Dir gelassen!«
Der Vater lächelte platt. Mein Körper spannte sich an. Bisher war ich nicht davon ausgegangen, den ominösen Erzeuger der Jahreszeiten zu treffen. Jetzt stand ich ihm gegenüber und erfuhr sogar etwas über seine heimliche Geliebte. Es gab verdammt viele Orte, an denen ich lieber gewesen wäre.
Winter hingegen sah so aus, als würde sie jede Minute explodieren. Ihr Kopf war so rot, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Jede Vene in ihrem Hals trat hervor, als würden sie sich zum Durchzählen aufstellen. Sie erinnerte mich ein wenig an einen übergroßen roten Knopf mit der Aufschrift ›Bitte nicht drücken‹.
Bald würde hier ein Sturm aufziehen, da war ich mir sicher und mit Wasser, Winter und Luft könnten die Auswirkungen höchst interessant werden. Allerdings wusste ich nicht, ob sie für mich besonders gesundheitsfördernd wären.
Sicherheitshalber trat ich einen Schritt zurück und stand damit näher an der Tür.
Lufts Stimme war erneut ein Säuseln und trotzdem klar zu verstehen, als er sagte: »Kalti mein Liebling, bitte reg Dich nicht auf. Es ist nicht so, wie es aussieht.«
Mein ganzes Leben hatte ich darauf gewartet, genau diese Worte im realen Leben zu hören. Sie sind so abgedroschen wie vorhersehbar gelogen, dass ich überzeugt davon war, dass sie keiner jemals benutzen würde. Außerdem erfreute mich der Kosename, den der Luftikus seiner Tochter verpasst hatte.
In meinem Gehirn zählte ich langsam von 10 abwärts. Ich kam nicht einmal bis 8, als Winter sagte: »Wir werden sehen, was Mama dazu sagt.«
Wenn Luft noch durchsichtiger werden konnte, tat er es in diesem Augenblick. Er löste sich förmlich auf.
Winter sagte: »Komm mit, wir sind hier fertig.«, und drehte sich zur Tür.
Als wir die Tür verließen zischte sie mir zu, als sie sagte: »Wenn ich diesen Namen einmal von Dir höre, wirst Du Deines Lebens nie wieder froh werden.«
Ich sagte: »Versteh schon, aber ich wusste nicht, dass es mir im Moment so gut geht.«
Winter sagte: »Könnte schlimmer werden.«
Ich sagte: »Schauen wir mal.«
Ich sagte: »Eigentlich ist es beruhigend für einen Sterblichen, dass Deine Familie ähnlich funktioniert wie unsere.«
Winter sagte: »Ist jetzt nicht so, als wäre ich darauf stolz. Allerdings sind diese Liebeleien untereinander gut zu erklären. Wenn es nur ein paar Kandidaten und Kandidatinnen gibt, ist die Partnerwahl stark eingeschränkt. Dazu kommen noch ein paar Ewigkeiten und schon hat man die Zutaten einer griechischen Tragödie.«
Langsam schüttelte ich den Kopf und sagte: »Ödipus und die anderen wären mir als Vorlage nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte da viel mehr an Lindenstraße.«
Ein heiseres Lachen erklang aus Winters Richtung. Sie nickte nur, während wir durch die Tür zum Zug gingen. Das Meer hatte sich nicht beruhigt.
Es war schon merkwürdig aus den hohen und riesigen Hallen, zurück auf den schmalen Bahnsteig zu treten. Da wo sich die Halle weitete, war jetzt das Meer.
Mit sicherem Schritt ging Winter auf die nächste Tür zu.
Reden hatte wenig Sinn, da das Meer tobte. Meine Lippen schmeckten salzig und Wind streifte durch meine Haare.
Als sich die Tür hinter uns schloss und wir uns gesetzt hatten, sagte Winter: »Das Fernsehen, hat es geschafft, aus Familienstreits abendliche Unterhaltung zu generieren.«
Ich lächelte und sagte: »Und als das nicht mehr nützte, setzte man Leute im Urwald aus.«
Die Mine von Winter verfinsterte sich. Sie sagte: »Guckst Du Dir den Mist an?«
Ich sagte: »Wenn ich Elend sehen möchte, schau ich mir meine alten Zeugnisse an. Anderen Menschen bei ihren Erniedrigungen zuzuschauen, entspricht nicht meiner Natur.«
Winter sagte: »Und doch hat es einigen Unterhaltungswert.«
Eine meiner Augenbrauen wanderten nach oben. Ich sagte: »Du schaust Dir den Mist an?«
Winter lächelte und schwieg.
Nachdem ich erneut eingenickt war, wurde ich von einem Gedanken geweckt, der mich nicht mehr losließ. Diese Idee hatte sich wie ein Kampfhund verbissen und war nicht abzuschütteln.
Fragend sah ich Winter an und sagte: »Die drei Stops, die wir bisher hatten.«
Winter nickte freundlich in meine Richtung, so als wollte sie die unausgesprochene Frage schon beantworten.
Ich sagte: »Das war alles geklaut. Ich kannte diese Orte schon vorher, weil sie die Lieblinge meiner Fantasie sind.
Zunächst war da das Harry Potter Universum. Das Schloss in den Bergen mit den hohen Zinnen entsprach direkt meiner Vorstellung.
Dann hatten wir einen Einblick in ›Fear and Loathing in Las Vegas‹. Besonders die Szene mit dem Wasser im Raum kam mir verdammt bekannt vor. Außerdem war ich mir sicher, irgendwo auch noch den Dude gesehen zu haben, der an seinem ›White Russian‹ schlürfte.
Der letzte Stop war zu offensichtlich. Den Spruch ›Bigger on the inside‹ hätte man greifen können.
Kann es sein, dass die Orte, die wir besucht haben, alle mit meinen Lieblingsfilmen und Fernsehserien zu tun hatten?«
Mit leiser Stimme sagte Winter: »Ich hatte mich schon gefragt, wann Du das rausfindest.«
Der Satz verwirrte mich. Mit den Finger trommelte ich auf dem kleinen Tischchen vor mir. Mit meinen Augen versuchte ich, hinter die Fassade von Winter zu blicken.
Diese schloss einfach die Augen und sah so aus, als wolle sie einschlafen.
Es dauerte eine Weile, bis Winter die Augen wieder öffnete. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte: »Was ist denn jetzt? Hast Du aufgegeben oder suchen wir weiter?«
Winter sagte: »Weißt Du mein Junge, ich kann jetzt nicht aufgeben. Vater hat uns doch gesagt, wo wir Mutter finden können. Wir müssen dort auf jeden Fall nachsehen.«
Ich sagte: »Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass Du jemals Deine Meinung wechselst. So wie Ich Dich kenne, ist es ein Wunder, dass Du dem untreu wirst, was Du vorher beschlossen hattest.«
Sie sagte: »Willst du mir jetzt plötzlich ausreden, was Du mir vorher einreden wolltest?«
Ich sagte: »Es war nur ein Versuch.«
Sie sagte: »Viele Leute haben es schon mit umgedrehter oder verdrehter Psychologie versucht. Bisher hatte noch keiner Glück.«
Ich sagte: »Ich bin da ähnlich. Wenn ich mich erst einmal zu etwas entschieden habe, dann gibt es niemand, der mich stoppen kann.«
Winter sagte: »Willst Du jetzt sagen, dass wir etwas gemeinsam haben?«
Bei der Frage wanderten Wellen, wie Dünen, über ihre Stirn und die Augen verengten sich. Anscheinend hätte ich das nicht erwähnen sollen.
Schnell sagte ich: »Es würde mir nie im Traum einfallen, Dich mit mir zu vergleichen.«
Sie sagte: »Das wäre so, als würden sich die Adler mit den Schweinen vergleichen.«
Ich sagte: »Ist schon gut. Ich halt lieber den Mund und fliege weiter.«
Winter hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah aus dem Fenster. Draußen flogen Wolken über einen grauen Himmel und ganz weit hinten wiegten sich Bäume im Wind.
Die Gegend kam mir unbekannt vor. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie viel Zeit während der Reise vergangen war. Mein Magen schmerzte – es kam mir vor, als hätte ich schon eine Ewigkeit keine Nahrung mehr zu mir genommen.
Als ich mich auf den Schmerz konzentrierte, blickte mich Winter unvermittelt an. Sie hatte schon wieder diesen Blick über die Brille auf dem Gesicht.
Sie sagte: »Sieht fast so aus, als hättest Du Hunger.«
Ich sagte: »Wahrscheinlich sind Dir diese menschlichen Gefühle unbekannt, aber wir Sterblichen müssen hin und wieder etwas zu uns nehmen.«
Sie nickte und sagte: »Ich hatte Dir doch gesagt, dass Du etwas einpacken solltest.«
Ich sagte: »Das war ein verdammtes Brot, was ich schon vor einer Ewigkeit verzehrt habe. So langsam hätte ich schon Lust auf etwas Warmes.«
Winter sagte: »Ich nehme Dich jetzt nicht in die Arme.«
Ich sagte: »Soweit ich das sehe, würde mir davon nur noch kälter werden.«
Winter schnalzte mit der Zunge und sah mich amüsiert an. Anscheinend schätze sie ab, wie lange ich noch durchhalten würde.
Ich sagte: »Auch wenn ich fett genug bin – eine Mahlzeit wäre mir jetzt sehr willkommen.«
Winter sagte: »Warte noch bis zum nächsten Stop. Vielleicht kann uns meine Mutter etwas zubereiten.«
Ich sagte: »Von der Natur bekomme ich sehr selten Essbares. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Sachen aus dem Labor stammen.«
Sie sagte: »Als Chemiker sollte Dich das ja nicht besonders stören.«
Winter sagte: »Du bist aber keiner von den militanten Vegetariern?«
Ich sagte: »Vielleicht ist es eine Überraschung für Dich, aber ich bin weder Vegetarier noch Veganer. Die Wurst auf meinem Brot hätte Dir da einen Hinweis geben können.«
Sie sagte: »Wer weiß schon, ob man diese Wurst nicht aus einem Baumstamm geschnitzt hat. In den Regalen der Supermärkte findet man allerlei merkwürdige Dinge.«
Mit dem Kopf schüttelnd sagte ich: »Fleisch schmeckt mir zu gut, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass wir mit der Massentierhaltung und den Monokulturen nicht unbedingt gutes Karma auf unseren Schultern stapeln.«
Winter nickte und sagte: »Meine Mutter hat schon vor Jahren darüber gesprochen. Die Qualen, die ihr anderen Lebewesen antut, sind kaum auszuhalten. Sie hatte mehrmals laut darüber nachgedacht, wie sie euch loswerden könnte.«
Ich sagte: »Und nur Dein positiver Einfluss hat die Ausrottung der Menschheit verhindert?«
Winter sagte: »Mach Dich nicht lächerlich. Ich stand kurz davor, die Korken knallen zu lassen. Was interessiert mich die Menschheit?
Meine Mutter dachte, dass man der Menschheit noch eine letzte Chance geben sollte. Wie ich das sehe, habt ihr das voll versemmelt.«
Ich sagte: »Leider weiß ich was Du meinst. So wie wir mit der Erde umgehen, sollten wir wirklich mal einen Denkzettel verpasst bekommen.«
Der Zug ruckelte, als müsste er auf der Strecke ein paar Steine überspringen. Winter blieb auf ihrem Platz fest. Dabei erweckte sie den Eindruck, dass der Wagon sich um sie herum bewegte, während sie den Ruhepol darstellte.
Ich rutschte hingegen auf meinem Stuhl von einer Seite zur nächsten.
Nachdem ich mich, durch panisches Festkrallen an der Stuhllehne, gerade noch von einem schmerzhaften Besuch des Fußbodens abhalten konnte, beruhigte sich die Fahrt wieder.
Besorgt sah ich Winter an. Sie lächelte nur mild und sagte: »Genießt Du die Reise?«
Ich sagte: »Neben dem Hunger, kommt jetzt eine chaotische Fahrt hinzu. Es gibt Dinge in meinem Leben, die ich mehr genossen habe.«
Winter sagte: »Wir haben gerade so etwas wie eine Zeitzone überquert. Jetzt werden wir wohl gleich da sein.«
Mit ungläubigen Blick betrachtete ich ihre Mine. Sie zuckte mit den Schultern, so als hätte sie gerade keine merkwürdige Bemerkung von sich gegeben, und sagte: »Erzähl mir von Deinen Reisen.«
Ich sagte: »Da gibt es kaum etwas zu erzählen. Ich bin nicht gerade jemand, den man als Globetrotter bezeichnen würde. In meiner Kindheit reiste mich mit meinen Eltern. Während meines Studiums reiste ich immer wieder nach Irland. Jetzt reisen wir in den Sommerferien mal hier und da hin.«
Winter sagte: »Ich hoffe, dass der Zug jetzt hält, bevor mir von Deiner Langeweile noch die Fußnägel abfaulen.«
Tatsächlich hielt der Zug an. Vor den Fenstern konnte ich einen wilden Urwald erkennen. Die Pflanzen waren so undurchdringlich, als hätte man eine grüne Tapete zwischen den Baumstämmen aufgespannt.
Der Himmel, den man durch die Baumwipfel gerade noch erkennen konnte, sah merkwürdig aus. Er hatte nicht den Blauton, den ich sonst von ihm kannte. Eigentlich fällt es mir nicht leicht, dies zu beschreiben – er war einfach zu bunt.
Mit einem Ruck erhob sich Winter und gab mir mit einer Handbewegung zu erkennen, dass ich mich beeilen sollte. Sie sagte: »Bisher haben wir die Orte Deiner Fantasie besucht. Jetzt gehen wir mal einen Schritt weiter.«
Als wir draußen standen, konnte ich meinen Sinnen nicht trauen. Die Luft war schwer. Sie roch nach Pflanzen und Dingen, die ich noch nie vorher gerochen hatte. Meine Lungen fühlten sich an, als würden sie sich mit einer zähen Flüssigkeit füllen.
Die Kälte biss mir in die Haut und fuhr mir unter die Kleidung. Dabei erkannte ich nirgendwo eine Spur von Frost.
Entsetzt sah ich Winter an und sagte: »Wo sind wir hier?«
Winter sagte: »Das hier ist einer der Lieblings-Orte meiner Mutter. Hier draußen hat sie in der Regel ihre Ruhe, da niemand scharf ist, sie hier aufzusuchen.«
Ich sagte: »Warum machen wir es dann?«
Winter sagte: »Ich kümmere mich nicht darum, was andere tun oder nicht tun.«
Mit erhobener Nase zog sie die Luft ein und lachte. Sie sah aus, als hätte man sie aufgetaut, während ich nicht wusste, ob ich gleich festfrieren würde.
Sie sagte: »Mutter ist hier. Komm mit, wir gehen zu ihr.«
Meine Brust brannte. Ich hatte das Gefühl, das nur ein kleines Schnapsglas Luft bei jedem Einatmen in mich einströmte. Der Schweiß, der sich auf meiner Haut durch die Anstrengung bildete, schien augenblicklich einzufrieren.
Ganz langsam kroch die Panik an meinen Beinen nach oben.
Ich sagte: »Das ist nicht die Erde.« Meine Stimme hörte sich anders an, als sonst. Sie hatte nicht ganz den gleichen Ton, den sie normalerweise hat. Vielleicht lag das allerdings auch, an dem monotonen Brummen, welches von allen Seiten auf uns einhämmerte, als wäre man vor einem in sich zusammenbrechenden Staudamm gefangen.
Winter lächelte mich weiter an. Hätte ich hier nicht gegen so viele Eindrücke gleichzeitig zu kämpfen gehabt, ich hätte ihr eine Faust zwischen die Lippen getrieben.
Sie sagte: »Stell Dich nicht so an. Das hier ist die Erde. Warum sollte Natur denn wo anders sein? Frag Dich nicht wo wir sind, sonder frag Dich, wann wir sind.«
Entsetzt schaute ich nach oben, wo das Brummen für eine Sekunde lang angeschwollen war.
Über mir in der Luft schwebte eine übergroße Libelle. Zumindest sah es im ersten Augenblick wie eine Libelle aus.
Das Vieh war mindestens ein Meter lang und hatte noch größere Flügel. Außerdem war es so flink, dass ich kaum Zeit fand, es mir genauer anzusehen.
Winter zupfte an meinem Ärmel und sagte: »Wir sollten uns beeilen. Wenn Du willst, kannst Du auch im Zug warten.«
Ich sagte: »Wir sind so lange gereist – jetzt möchte ich Deine Mutter kennenlernen.«
Winter sagte: »Hab ich mir gedacht. Wenn Du allerdings müde werden solltest, musst Du mir das sagen. Außerdem schlaf dann nicht ein. Ich hätte wenig Lust darauf, Deinen leblosen Körper zurückzutragen.«
Ich sagte: »Danke für den Tipp.«
Die Umgebung, die Geräusche und Gerüche – alles fühlte sie surreal an. Ich erwartete an jeder Ecke eine schmelzende Uhr oder eine Burg auf einem auf die Spitze gestellten Stein. Winter schien aufzublühen.
Mit großen Schritten teilte sie den Vorhang aus Blättern und Geäst. Es war, als würden die Pflanzen ihr ausweichen.
Bei dem Versuch Winter etwas zu der Umgebung zu fragten, bemerkte ich, dass meine Zunge am Gaumen festklebte. Ich bekam keinen Laut raus – so viel ich es auch versuchte.
Wir waren vielleicht fünf Minuten gelaufen, als wir an eine Leiter kamen, die ohne festen Halt in der Luft zu hängen schien. Winter ergriff sie und zog sich an ihr nach oben.
Teilnahmslos sah ich ihr nach. Die Leite musste da oben irgendwo befestigt sein.
Winter rief von oben: »Jetzt komm endlich. Wir werden nicht pro Stunde bezahlt. Also nimm die Beine in die Hand.«
Als meine Hände nach der Leiter tasteten, dachte ich, dass ich dafür überhaupt gar nicht bezahlt wurde und dass ich eigentlich etwas besseres verdient hätte. Aber so ist das ja immer mit dem Verdienen und Bekommen.
Winter sagte: »Wir sind gleich da. Du kannst Dich dort etwas ausruhen und bekommst was zu essen. Ich hoffe nur, dass meine Mutter da ist. Sonst müsste ich sie im Gebüsch aufspüren.«
Ich sah sie fragend an und sie erkannte die Frage auf Anhieb. Sie nickte und sagte: »Ich bin mir sicher, dass sie hier ist. Ich weiß nur noch nicht wo.«
Während ich eine Sprosse nach der nächsten nach oben kletterte, kam mir das kryptische Lied von Led Zepellin in den Kopf.

There’s a lady who’s sure all the glitters is gold
and she’s bying a stairway to haeven
when she gets there, she knows if the stores are all closed,
with a word she can get what she came for,
and she’s buying a stairway to Heaven

Ich dachte daran, dass der Text auf einem Plakat im Wohnzimmer eines guten Freundes hing. Ich hatte ihn einmal gefragt, warum er die Lyrics aufgehängt hatte – sie würden doch keinen Sinn ergeben?
Er sagte mir, dass wenn man in der richtigen Stimmung sein musste, um den Text zu verstehen.
Das Lied ist wie ein Schloss, zu dem man den Schlüssel nicht hat. Oft dachte ich schon, ganz kurz davor zu sein, den Schlüssel greifen zu können. Ich dachte, dass er sich vor meinem Augen materialisierte.
Dann war er wieder weg.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto weiter entfernte er sich.
Mein Freunde konnte mir den Schlüssel nicht beschreiben oder näherbringen. Man musste ihn selbst finden.
Vielleicht waren es auch nicht die Worte. Der Schreiber hatte die Laute eines uralten Zauberspruchs nachbilden wollen. Der Zauberspruch beschwor etwas aus den tiefsten Tiefen oder höchsten Höhen. Woher sollte jetzt meine Hilfe kommen, hier nirgendwo zwischen Himmel und Hölle?
Plötzlich fühlte ich, wie ich am Arm hinauf gezogen wurde. Winter hob mich auf, wie einen Mantel und blickte mir kritisch in die Augen.
Ich dachte weiter an den Schlüssel. Verdammte Axt, irgendwer muss mir das Ding doch  besorgen können.
Winter schlug mir zweimal mit flacher Hand gegen die Wangen.
Ich zog die Luft in starken Zügen ein. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich fast eingeschlafen wäre. Winter hielt mich an einer Hand.
Die Luft hier oben war einfacher zu atmen. Sie strömte in mich ein, wie frisches Wasser in einen alten leckgeschlagenen Öltanker.
Die Stellen, die Winters Hand berührt hatten, brannten wie kalter Wind. Jetzt erst bemerkte ich wieder, wie kalt mir war.
Winter sagte: »Hier oben müsstest Du wieder Atmen können. War sowieso eine Fehlentscheidung, sämtliches Leben auf der Erde von Sauerstoff abhängig zu machen. Was sich Mutter dabei gedacht hat, weiß ich nicht.«
Ich sagte: »Du kannst sie gleich danach fragen. Außerdem glaub ich nicht, dass es eine aktive Entscheidung Deiner Mutter gewesen war.«
Winter sagte: »Als Evolutions-Jünger glaubst Du ja nicht an den Quatsch von Schöpfung. Vielleicht hatte meine Mutter ja tatsächlich keine Rolle in der Entwicklung. Aber eine blödsinnige Entwicklung war es auf jeden Fall.«
Meine Kräfte schwebten zurück in meinen Körper. Das Lied, an das ich gerade noch gedacht hatte, verschwand aus meinem Geist.
Ich sagte: »Lass uns Deine Mutter finden. Ich hab Hunger.«
Winter lachte kurz auf und sagte dann: »Ein paar Augenblicke vor dem sicheren Tod zu stehen, bereitet Dir wohl einen großen Appetit.«
Ich sagte: »Das Gefühl hatte ich schon vorher. Das Atmen hat mich nur erneut daran erinnert.«
Sie sagte: »Erinnern ist in Deinem Fall wohl recht notwendig.«
Winter hielt immer noch meine Hand, während sie sich umdrehte und mich mit sich zog. Sie sagte: »Wir sind ganz nah. Mutter ist hier gleich um die Ecke. Ich kann es fühlen.«
Ich schaute mich um. Wir standen auf breiten Ästen, die mit ihrem Blätterwerk einen Fußboden gebildet hatten. Durch ganz kleine Spalten konnte ich nach unten blicken.
Ich konnte die genaue Höhe nicht abschätzen, aber meine Sinne sagten mir, dass ich nicht noch einmal runterschauen sollte. Sonst hab ich eigentlich keine Probleme mit Höhenangst, aber das hier stellte alles andere in den Schatten.
Die Unsicherheit, dass ich jeder Zeit durch eine Lücke nach unter gelangen konnte, machte mir nicht unbedingt Mut.
Winter schien daran jedoch weniger Gedanken zu verschwenden. Sie hatte mich weiter an der Hand. Wie einen kleinen Schuljungen auf dem Weg zum Direktor, folgte ich ihr, bis wir an eine Tür kamen.
Ich sagte: »Das ist jetzt zu blöd. Wer baut denn bitte eine Tür in eine Baumkrone? Irgendwie scheine ich wohl weiter zu halluzinieren.«
Winter sagte: »Halt einfach die Klappe und bestaune Deine Umgebung in der Stille. Besonders solltest Du vor meiner Mutter den Mund halten.
Sie wird sowieso nicht so angetan davon sein, dass ich ihr einen Affen mitgebracht habe.«
Ich sagte: »Vielleicht kann ich für meine Art ja ein gutes Wort einlegen.«
Winter sagte: »Glaub mir, Du bist der beste Beleg dafür, dass es besser wäre, euch alle auszurotten. Wenn Du jetzt auch noch Deiner Zunge freie Bahn lässt, wird sie die Sache noch forcieren wollen.«
Ich sagte: »Dann halte ich die Klappe.«
Sie sagte: »Besser wäre das auf jeden Fall.«
Die Mutter Erde saß auf einem Sitzkissen und tätschelte den Kopf eines gigantischen Wesens. Der Körper der Kreatur war unter der Baumkrone versteckt. Alleine das Maul des Riesens war so groß, dass ich bequem darin herumspazieren hätte können.
Winter sagte: »Hallo Mutter. Ich sehe, Du spielst schon wieder mit Deinen Lieblingstieren?«
Die alte Dame mit den weißen Haaren drehte sich in Zeitlupe zu Winter. Ihr Blick war ausdruckslos. Ihre Augen blitzten, als sie Winter ansah.
Die Worte kamen verzögert und langsam. Die Stimme war viel zu tief, für die zierliche Alte, die mir gegenübersaß. Sie sagte: »Hallo mein Schatz. Ich hatte nicht damit gerechnet, Dich hier zu sehen.«
Winter sagte: »Eigentlich hätte ich das Treffen auch gerne verschoben, aber man sagte mir, dass Du krank bist.«
In Mutter Natur schien etwas aufzukochen. Mir kam es so vor, als würden ihre grauen Haare zu Berge stehen und Feuer aus ihren Augen lodern.
Sie sagte: »Diese verdammten Parasiten zerstören alles. Sie zertreten das, was war und machen unmöglich, was kommen könnte. Sie sind wie ein übergroßes Krebsgeschwür.«
Mir wurde flau. Natur hielt mich jetzt mit ihren Blicken fest. Sie sagte: »Du hast sogar noch einen der Schmarotzer mitgebracht. Was denkst Du Dir eigentlich dabei?«
Winter sagte: »Ich habe ihn dressiert. Jetzt ist er handzahm. Außerdem hast Du doch auch Deine Lieblingstiere, an denen Du hängen geblieben bist.«
Natur sagte: »Es war ein verdammter Unfall, der meine Lieblinge ausgelöscht hat.«
Winter lächelte und sagte: »Komm schon, auf Kurz oder Lang hätten sich die Tiere auch selbst überlebt. Sie waren einfach zu groß. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.«
Natur sagte: »Ich bin einfach zu schwach geworden. Sie sind kurz davor mich platt zu machen – und dabei mag ich meine Kurven. Sie brauchen nur auf einen Knopf zu drücken und ich würde mich nie mehr davon erholen. Das ist einfach nicht fair.«
Winter zog die Augenbrauen hoch, als sie sagte: »Dir kam es noch nie auf Fairness an. Warum kommst Du mir bitte jetzt damit. Wie war das noch mit dem Überleben des Stärksten?«
Natur sah sehr müde aus. Sie drehte sich erneut zu dem Kopf in der Größe eines Kleinwagens und tätschelte dem Tier die Wangen.
Winter drehte sich zu mir um und sagte etwas zu laut und betont: »Weißt Du jetzt, welche Probleme ich mit meiner Familie habe? Der eine treibt sich mit fremden Frauen rum und die andere zeigt so viel Einsicht, wie eine Backsteinmauer.«
Bei den Worten drehte sich Natur blitzschnell um und sagte: »Wer war bei Deinem Vater? Bestimmt Meer, die alte Hexe. Ich hatte ihr verboten, ihn zu sehen, wenn ich nicht da bin.«
Winter zuckte mit den Achseln. Sie flüsterte in meine Richtung: »Man muss sie nur auf Dinge bringen, die sie ablenkt. Das klappt immer.« Dabei zwinkerte sie mir zu – ich fühlte mich für einen Augenblick wie ein Mitverschwörer.
Zu ihrer Mutter gewandt sagte Winter: »Jetzt erzähl mir endlich, was Du hast. Vielleicht kann ich Dir ja helfen.«
Natur schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Du könntest Deinen Vater zur Besinnung bringen. Für mich kannst Du allerdings nichts machen. Die Menschen rauben mir den letzten Nerv. Ich habe einfach keine Lust mehr. Irgendwann möchte man meinen, ist endgültig Schluss.«
Winter lächelte mild. Sie sagte: »Apropos Menschen – meiner hat Hunger. Du hast nicht zufällig etwas für ihn?«
Natur sah mich erneut prüfend an. Dann sagte sie: »Geh durch die Tür. Ich habe drüben Einiges liegen. Bedien Dich ruhig.«
Sie nickte in Richtung einer Tür, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte.
Winter schob mich zu der Tür. Sie öffnete sie mit einer Hand und drückte mich mit der anderen in das Zimmer hinein.
Sie sagte: »Warte hier, bis ich mich mit Mutter unterhalten habe. Nimm Dir einfach etwas, setzt Dich hin und iss. Ich komm dann, wenn ich fertig bin.«
Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter mir.
Ich stand in einem kleinen Zimmer, in dessen Mitte ein Tisch mit zwei Stühlen stand. Der Tisch war mit Nahrungsmitteln überhäuft. Natürlich waren die Lebensmittel unbehandelt. Rohe Kartoffeln, Möhren, Äpfel – ich erkannte von jeder Art von Gemüse und Obst mindestens ein Exemplar.
Daneben lagen noch andere Dinge, die ich nicht kannte.
Ich überlegte etwas länger. Im Grunde bin ich ein neugieriger Typ. Wenn ich etwas im Supermarkt mit dem Etikett ›neu‹ sehe, muss ich zwangsläufig zuschlagen. Es sei denn es sind Dinge, die mir nicht schmecken oder passen würden. Was soll ich z.B. mit einem Paket ›neuer‹ Damenbinden?
Auf der anderen Seite fragte ich mich, ob Mutter Natur mir die Sachen absichtlich hingelegt hatte. Wenn sie das Zeug auf den Tisch legte, im Wissen, dass ich es finden würde, was waren dann ihre Intentionen?
Nachdem ich an vorhin dachte, war sie ja nicht gerade gut auf uns zu sprechen. Wenn sie alle Menschen ausrotten wollte, würde sie dann mit mir anfangen? Vielleicht sogar an mir proben?
Auf der anderen Seite könnte das Zeug hier einfach so rumliegen. Vielleicht hatte Natur nur ihre Sammlung ausgestellt. Die besten Exponate, die sie finden konnte. Wenn ich mich dann daran vergriff?
Sammelte sie vielleicht auch giftige Früchte und Gemüsesorten?
Ganz am Rand lag ein Pilz, der mir irgendwie merkwürdig vorkam.
Vielleicht wollte mir Natur auch einen Überblick über die Reichhaltigkeit ihrer Künste durch alle Zeitepochen geben.
Verzweifelt griff ich nach einer Orange und biss ein Loch in die Schale. Wenn man so im Ungewissen gehalten wird, sollte man sich auf sichere Sachen besinnen.
Die Orange in meinen Händen, war die beste Orange, die ich je gegessen hatte. Sie war saftig und nicht zu süß und nicht zu sauer. Perfekt im Geschmack – einfach sauberer und besser als die Supermarktwahre.
Das war kein Wunder, wenn man bedachte, wo ich im Moment war.
Die Tür öffnete sich und ein Mädchen kam in die Küche.
Sie war zunächst überrascht mich zu sehen. Dann kicherte sie, wie das nur Mädchen in lächerlichen Kinderfilmen können. Dabei war sie diesem Alter definitiv entwachsen. Wobei ich es schlecht schätzen konnte. Ich habe schon mehrfach Mädchen in diesem Alter als Fahrerin von Autos gesehen und war jedesmal überrascht.
Ihre Kleidung sah aus, als hätte sie sie bei Woolworth im Ausverkauf der Karnevalsabteilung vom Wühltisch geklaut. Selbst eingefleischte Hippies wären sofort an Augenkrebs erblindet.
Ihre Zähne blitzten hell und die blonde Mähne wehte durch den halben Raum.
Verwirrt blickte ich an ihr hinab. Sie war verdammt knapp bekleidet, für die kalten Temperaturen. Außerdem find ich es unpassend, wenn sich Mädchen lasziv kleiden, auch wenn dieses hier ihre Pubertät anscheinend schon hinter sich gelassen hatte.
Sie sagte: »Ich hatte niemand hier erwartet.«
Ich sagte: »Freut mich auch dich kennenzulernen. Nach allem was ich weiß, würde ich darauf wetten, dass Du Frühling bist.«
Erneut schallte das Klein-Kinder-Lachen durch die Küche, was bei mir eine Gänsehaut auslöste.
Sie sagte: »Du hast tatsächlich gut geraten. Wahrscheinlich bist Du der Kerl, von dem mir Herbst erzählt hat.«
Ich sagte: »Herbst hat von mir gesprochen?«
Frühling lächelte mich breit an und sagte: »Auch wenn er sonst nichts sagt, von Dir hat er mir auf jeden Fall erzählt.«
Ich lehnte mich erneut über den Tisch. Eine rote Frucht weckte mein Interesse. Sie war etwa doppelt so groß wie eine Kirsche und roch fruchtig.
Frühling beobachtete mich spöttisch.
Ich sagte: »Sind die Sachen hier giftig?«
Frühling sagte: »Alle Dinge auf dem Tisch sind für Dich essbar.«
Misstrauisch sah ich ihr in die Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, wie ein Monster, dass nur kurz unter dem Bett hervorlugt.
Ich sagte: »Ich wollte nicht wissen, ob die Sachen essbar sind. Ich wollte wissen, ob sie giftig sind.«
Frühling lachte kurz auf und sagte: »Kein Problem. Du wirst an keinem davon sterben.«
Ich sagte: »Ich habe auch keine Lust auf einen unendlich langen Schlaf oder andere existenzielle Probleme.«
Sie sagte: »Nimm ruhig, was Du willst. Vielleicht verzichtest Du auf den Pilz da in der Ecke, da Du ja nicht unendlich lang schlafen möchtest, aber sonst ist alles prima.«
Die rote Frucht schien mich anzuziehen. Meine Neugier war geweckt. Die Frucht zwischen den Fingern haltend sagte ich: »Was ist das denn hier?«
Frühling sagte: »Die Bäume sind schon seit ein paar tausend Jahren eingegangen. Eigentlich schade, ich habe die Roten immer gern gegessen.«
Der Geruch war wirklich überwältigend. Es war süß und fruchtig mit einer Note, die mich an den Käsekuchen meiner Mutter erinnerte, den ich immer am liebsten gegessen habe.
Mein Mund öffnete sich.
Eine traurige Stimme sagte: »Das würde ich lassen. Sterbliche bekommen davon Halluzinationen. Du würdest das nicht wollen. Auch wenn dann die Welt etwas besser wäre.«
Ich fuhr herum und erblickte Herbst.
Hätte er auch nur ein wenig Coolness gehabt, hätte er in der Tür gelehnt. Doch Herbst stand mit hängendem Kopf in der Öffnung und wirkte deplatziert, so wie ein Kind, welches man über Nacht im Kinderparadies vergessen hatte und welches jetzt hinter der verschlossenen Glastür steht und auf seine Mutter wartet.
Frühling sagte: »Du gönnst mir doch keinen Spaß.«
Ich sagte: »Ich hatte Dich doch extra danach gefragt, ob das Zeug gefährlich ist.«
Frühling sagte: »Du hattest nicht nach Halluzinationen gefragt.«
Ich sagte:  »Halluzinogene Drogen sind nichts für mich. Ich habe in meinem Leben schon zu viele Leute getroffen, die von ihrem Trip niemals runtergekommen sind. Einer spricht immer noch mit Engeln und der andere versucht zu verhindern, dass die Eichhörnchen die Welt übernehmen. Arme Typen, wenn Du mich fragst.«
Frühling lachte und sagte: »Bei den Roten ist Hängenbleiben ausgeschlossen. Deshalb sind sie ja so gut.« Ich sah Herbst an, der mir müde zunickte.
Fröhlich hüpfte Frühling auf einem Bein und wirbelte einmal um ihre eigene Achse.
In der Zeit in der sie sich um sich selbst kümmerte, steckte ich die Frucht in die Seitentasche meiner Jacke. Wer weiß, wann man das noch gebrauchen konnte.
Herbst war in der Zwischenzeit näher gekommen und hatte meine Schulter ergriffen. Er sagte: »Ich habe Dich wirklich vermisst.«
Ich sagte: »Hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen.«
Er sagte: »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten. Mutter hat uns ja gerufen.«
Ich sagte: »Dann fehlt nur noch Dein Bruder Sommer?«
Herbst schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Ach mit dem ist nicht zu rechnen. Wahrscheinlich hat er noch nicht einmal die Einladung bekommen. Soweit ich weiß ist er gerade in Australien Surfen. Dabei lässt er sich nie stören.«
Ich sagte: »Das wird Deine Mutter aber belasten.«
Herbst sagte: »Er kommt sowieso zu sehr nach Vater. Mutter wird gar nicht bemerken, dass er fehlt.«
Nachdem ich Frühling kurzzeitig dabei zusah, wie sie sich mit sich selbst beschäftigte – ich konnte immer noch nicht fassen, dass diese Frau bald meine Begleitung seien sollte – drehte ich mich erneut zu Herbst.
Er sah genauso schlecht gelaunt aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Augenringe waren nicht kleiner geworden und sein Haar hing ihm immer noch schlaff die Stirn hinunter.
War hier eigentlich hinunter oder herunter der richtige Terminus? Das hat was damit zu tun, ob man oben steht und runter kommt oder unten steht und etwas runter kommen sieht.
Soweit war ich mir sicher. Aber wie müsste es bei Haaren richtig heißen?
Herbst sah mich an und sagte: »Du scheinst verwirrt zu sein. Hat Dich meine Schwester durcheinandergebracht?«
Ich sagte: »Welche meinst Du jetzt? Die die gerade Kreisel spielt oder den Drachen, in dessen Nähe ich nicht einschlafen möchte, weil sie mir sonst vielleicht ein Kissen aufs Gesicht näht?«
Herbst sagte: »Wie ich sehe, kommt ihr sehr gut miteinander aus. Fast schon besser als wir ausgekommen sind.«
Beim letzten Satz kam er mir noch unglücklicher vor, als sonst. Wobei ›unglücklich‹ bei Herbst tatsächlich endlos steigerungsfähig war.
Ich sagte: »Es gibt einige Leute, die meinen, dass wir prima zusammen funktionieren. Allerdings glaub ich, dass wir ähnlich gut harmonisieren, wie eine brennende Zigarette und eine Dynamitstange.«
Frühling tänzelte auf mich zu. Sie hatte ein breites Lächeln im Gesicht und weckte in mir größere Verunsicherung, als dies eine riesige Spinne auf meiner Bettdecke schaffen würde. Dazu muss ich sagen, dass mich Spinnen zwar faszinieren, mich jedoch vor dem Gedanken graust, eines dieser Tiere zu berühren.
Sie lachte mir direkt ins Gesicht und sagte: »Ich freue mich schon auf unsere Zeit, mein Schatz.«
Wenn ich mit jemand ein paar Jahre meines Lebens teile, habe ich grundsätzlich nichts dagengen, wenn dieser Mensch mich Schatz nennt. Wenn mir eine Wildfremde diesen Titel verpasst, weiß ich nicht genau, was sie damit bezwecken will.
Ich sagte: »Toll!«, und legte so wenig Emotion in dieses Wort, wie ich gerade noch vermeiden konnte.
Sie lachte glockenhell auf. Was auch immer diese Frau vorher genommen hatte, ich wollte es nicht nehmen. Das schien mir auf jeden Fall ungesund zu sein.
Herbst sagte: »Du wirst ihre Gegenwart genießen.«
Dabei schob er die einzelnen Worte mit so viel Elan über die Zunge, dass es eher nach einer Warnung klang. Die Wörter hörten sich an, als würden sie sich von seiner Lippe in den Freitod stürzen.
Ich nickte ihm zu und sagte: »Das glaub ich auch.«
Leiser fügte ich hinzu: »Ist die immer so?«
Herbst sagte: »Keine Angst. Manchmal ist sie schlimmer.«
Ich sagte: »Das hatte ich befürchtet. Warum ist die so?«
Herbst sagte: »Womit verbindest Du den Frühling?«
Für einen Moment schwieg ich und dachte nach. Die Frühlingsgefühle fielen mir recht zeitig ein.
Ich sagte: »Jetzt kann ich mir vorstellen, was auf mich zukommt.«
Herbst nickte nur.
Winter kam durch die Tür. Sie sah verärgert aus.
Als sie ihre beiden Geschwister sah, drehte sie sich zu mir und sagte: »Lass uns hier abhauen. Ich kann sowieso nichts machen.«
Ich sagte: »Jetzt willst Du schon gehen? Es wird doch gerade lustig.«
Winter nickte Herbst zu. Irgendwie lagen unausgesprochene Worte in der Luft, so als hätte man sie greifen können.
Selbst Frühling hielt einen Augenblick inne und sah Winter an.
Dann sagte Frühling: »Mutter wird sich schon wieder einkriegen. Das hat sie bisher immer. Ich kann ja gemeinsam mit ihr meditieren, um ihre innere Ruhe wiederzufinden.«
Winter schüttelte den Kopf und ließ dabei den Kopf hängen. Sie sagte: »Das erinnert mich daran, dass Du den Leuten die Homöopathie eingeredet hast. Die Menschheit ist immer noch ganz wild darauf.«
Frühling lachte und sagte: »Es funktioniert doch auch.«
Winter verdrehte die Augen und sagte: »Der Glaube kann Berge versetzen. Allerdings ist es anschließend schwierig sich von den eingebildeten Bergen zu befreien, die man im Geist auf sich niederprasseln ließ.«
Frühling sagte: »Du bist viel zu negativ.«
Winter sagte: »Hat keinen Sinn zu diskutieren. Denk daran, dass Du in ein paar Tagen übernehmen musst.«
Sie drehte sich zu mir um und sagte: »Lass uns hier verschwinden. Ich habe wirklich keine Lust auf diese Gesellschaft.«
Ich sagte: »Und was wird aus Deiner Mutter?«
Winter sagte: »Die wird sich schon beruhigen. Gib ihr ein paar Jahrtausende und sie ist wieder ganz die Alte.«
Ich verabschiedete mich von Herbst. Es war schön gewesen, ihn so früh wiederzusehen, auch wenn mir seine depressive Art oft nervte.
Als ich seine Hand geschüttelte hatte, die sich wie ein nasser Fisch anfühlte, drehte ich mich zu Frühling um.
Ohne dass ich es gemerkt hatte, war sie näher geschwebt.
Sie stand kaum eine Nasenlänge von mir entfernt und machte Anstalten mich zu umarmen. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.
Dadurch ließ sie sich nicht irritieren. Wie ein wehender Umhang umfing sie mich. Leicht hauchend, kaum zu verstehen, sagte sie: »Wir sehen uns in ein paar Tagen. Ich werde Dich besuchen.«
Etwas irritiert sagte ich: »Ich freue mich darauf.«
Mit einem Ruck zog mich Winter aus der Umarmung. Ihren Geschwistern schleuderte sie zum Abschied lediglich eine Hand in die Luft und wir verließen den Raum.
Kaum hatten wir das Zimmer verlassen, sah sie mich an und sagte: »Du freust Dich doch nicht wirklich darauf, die Wetterhexe öfter zu sehen?«
Ich sagte: »Was soll Mann denn in so einer Situation anderes sagen? Irgendwie kam das einer sexuellen Belästigung ziemlich nah.«
Winter zog die Brauen hoch und sagte: »Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass ihr Männer gar nicht sexuell belästigt werden könnt. Es gehört doch zu eurer Natur, eher die Täter- als die Opferrollen anzunehmen.«
Ich sagte: »Ich fühle mich gerade ausgenutzt.«
Winter sagte: »Aber ihr steht doch darauf!«
Ich sagte: »Ich mag es einfach nicht, wenn mir wildfremde Menschen zu nahe kommen.«
Winter sagte: „Du kannst im Zug heulen, wenn Du das willst. Jetzt sollten wir erst einmal zurück.“
Mutter Natur hatte sich in irgendein anderes Zimmer verzogen. Über diesen Umstand war ich weniger traurig. Bei ihrer ausgeprägten Misanthropie könnte ich ein weiteres Treffen gerne vermeiden.
Winter ging zur Leiter und sah hinunter.
Sie drehte sich zu mir und sagte: »Ich habe Mutter gebeten, dir den Rückweg etwas erträglicher zu gestalten.«
Ich sagte: »Was hat sie gesagt?«
Sie zog die Lippen kraus und sagte: »Keine Chance. Sie meint, dass es ihr völlig egal ist, ob ein Mensch mehr oder weniger auf dem Planeten wohnt. Sie würde jetzt nicht damit anfangen, sich Sorgen über Einzelne zu machen.«
Ich sagte: »Irgendwie kommt mir ihre Einstellung bekannt vor.«
Winter sagte: »Ich werde vorgehen. Wenn ich merke, dass Du an mir vorbeifliegst, werde ich laut rufen.«
Ich sagte: »Wird mich das denn retten?«
Sie sagte: »Nicht im Geringsten. Aber es wird mir Spaß machen, Dich beim Fallen anzufeuern.«
Dann nahm sie die Leiter und ging eilig die Sprossen hinunter.
Ich folgte ihr.
Schon nach wenigen Metern merkte ich, wie das Atmen schwieriger wurde. Mit aller Macht zwang ich mich dazu, mich weiter zu konzentrieren.
Meine Gedanken drehten sich gleichzeitig um sehr viele Dinge, wie ein Rollschuhläufer, der auf dem Dach eines Kettenkarussells seine Runden dreht.
Ein Schmunzeln lag auf meinem Gesicht, als ich das Bild vor meinen Augen sah. Der Typ muss sehr schnell fahren, um wirklich Runden zu drehen.
Von unten sagte Winter: »Ist nicht mehr so lang. Wenn Du noch ein wenig aushältst, kommen wir heil runter.«
Ich dachte nur – Rollschuhfahrer!
Wie ich zum Zug gekommen bin, kann ich nicht mehr beschreiben. Irgendwann saß ich auf jeden Fall im Abteil gegenüber von Winter.
Ihre Mine war wie versteinert und sie sah aus dem Fenster.
Ich sagte: »Ist wohl nicht so gut gelaufen mit Deiner Mutter.«
Sie sagte: »Meine Eltern sind komisch. Auf der einen Seite lauf ich sofort los, wenn sie rufen, auf der anderen Seite möchte ich rennen, wenn ich da bin. Glücklich haben mich diese Besuche noch nie gemacht.«
Ich sagte: »Es geht auch vielen Menschen so. Eigentlich ist es merkwürdig, dass die Beziehung von Eltern zu Kindern häufig so komisch ist. Schließlich verbringen sie einen großen Teil des Lebens zusammen und teilen sogar die gleiche Genetik.«
Nachdenklich blickte Winter nach draußen. Sie sagte: »Vielleicht hat das einen evolutionären Grund. Die Kinder sollten sich möglichst weit von den Eltern entfernen, um ihre Sippe über die ganze Welt zu verstreuen.«
Ich sagte: »Glaub ich nicht. Ich hab mal gelesen, dass Frauen älter werden als Männer, weil sie die Funktion haben, sich um die Enkel zu kümmern. Das geht ja nicht, wenn man nicht in der Nähe wohnt.«
Winter sagte: »Dann sollte die Beziehung zwischen Eltern und Kinder eigentlich anders sein, als sie in meiner Familie ist. Allerdings sind wir ja keine Sterbliche. Vielleicht macht uns das ja zu etwas ganz Besonderen.«
Ich sagte: »Ich kenne zu viele Familien, in denen die Beziehungen zwischen Eltern und Kind belastet sind. Bei mir ist das zum Glück nicht der Fall, aber ich kann Dir Geschichten erzählen…«
Winter schüttelte den Kopf und sagte: »Brauchst Du nicht. Kenn ich alles. Immer das gleiche – man könnte meinen, dass ihr von uns abgeschaut habt.«
Winter sah mich an und sagte: »Hast Du nicht irgendeine nette Geschichte, mit der Du mich ablenken kannst?«
Kurz überlegte ich. Es gab kaum Geschichten, in denen ich mich nicht irgendwie zum Affen machte.
Ich sagte: »Amüsant war der Geburtsvorbereitungskurs zum zweiten Baby.
Schlussendlich hatten wir es nicht hinbekommen, vor dem ersten Kind so etwas zu besuchen. Eigentlich macht man sich in solchen Kursen sowieso nur panisch.
Auf die Frage an die Hebamme während das erste Kind zur Welt kam, welche Elter sie als Kundschaft am wenigsten bevorzugt, kam sofort die Antwort: ›Die Gebildeten – die haben sich zur Vorbereitung schon so sehr durch Bücher und Kursen geschult, dass die Frau dann völlig überrascht von den Schmerzen, ihrem Mann schreckliche Dinge an den Kopf wirft, die kein Mensch je hören möchte.‹
Letztendlich hatten wir uns trotzdem zum Kurs angemeldet, allein aus einer Laune heraus, dass das lustig werden könnte und wir einen Grund hatten, unser erstes Kind an dem Tag an Verwandte abzuschieben.
Schon als wir den Raum betraten, galten wir als Streber. Ehrfürchtig lauschte man unseren Erklärungen, als wären wir die einzigen Erleuchteten in einem Raum voller ausgebrannter Glühmittel. Es gibt nicht viele Dinge, bei denen man, wenn man sie nur einmal erledigt, gleich als Meister gilt.
Das Publikum war ebenso grandios.
Da war zunächst ein junges Mädchen, die nicht genau wusste, ob der baldige Vater überhaupt das Kind sehen wollte.
Dann ein gleichgeschlechtliches Pärchen, von denen diejenige ohne Kinderzuschlag neidisch auf diejenige mit zu seien schien. Außerdem war der Zuwachs anscheinend nicht vorher abgesprochen worden, was zu zusätzlichen, allerdings sehr unterhaltsamen Dialogen führte.
Ich erzählte weiter: »Neben den etwas auffälligeren Exemplaren waren noch zwei oder drei weitere Pärchen in der Runde, die allerdings in meiner Erinnerung längst verblasst sind.
Nur ein Vater stellte eine löbliche Ausnahme zum Einheitsbrei dar, in dem er steif und fest behauptet, grundsätzlich in Ohnmacht zu fallen, sobald er Fäkalien sehen würde. Er fragte mich, ziemlich ernst blickend, wie ich denn Windeln wechseln würde.
Ich sagte ihm, dass ich es normalerweise mit den Händen mache. Mit dem Mund hätte man hinterher immer einen merkwürdigen Beigeschmack.
Entsetzt sah er mich an und für einen Augenblick hatte ich dass Gefühl, dass er hintenüberkippen würde.
Nach der Frage versuchte ich, immer in der Nähe des gleichgeschlechtlichen Pärchens zu bleiben, da deren Unterhaltung mir wesentlich interessanter vorkam.
Der weicheirige Vater war übrigens am zweiten Tag nicht mehr im Kurs. Wahrscheinlich hatte ihm die Diskussion über hypothetische Ausscheidung seines Erbens fürs Leben gereicht. Wahrscheinlich hatte er sich noch am gleichen Tag ins Ausland abgesetzt. Ich hab die werdende Mutter nicht gefragt.
Unsere Kursleiterin war eine New Age Göttin, die sich anscheinend vorher Beruhigungstee intravenös verabreicht hatte. Die Gute schwebte mehr, als dass sie noch Bodenhaftung aufwies.
Die Meditationsübungen zum sanften Grunzen geschlechtsreifer Wale werden mir wohl immer in Erinnerungen bleiben. Der Kursleiterin werden hingegen meine spitzen Kommentare im Kopf bleiben.
Am Ende von zwei, für sie etwas anstrengenden, für mich sehr entspannten Tagen, fragte sie mich nach jedem Satz, ob ich noch etwas hinzuzufügen hätte. Ich glaub, dass ihre Äußerung, dass ‚meine Späße ganz toll wären‘, ironisch gemeint war. Gelacht hat sie auf jeden Fall nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Dame überhaupt zur Ironie fähig war.
Meine Frau hat sich auf jeden Fall köstlich amüsiert.«
Winter sagte: »Was war mit dem dritten Kind?«
Ich sagte: »Das wollten wir der Kursleiterin nicht mehr antun. Deshalb verzichten wir auf Kind Nummer 3.«
Winter nickte und sagte: »Verständlich.«
Die Gegend durch die wir rasten, kam mir immer vertrauter vor. Je näher wir unserem Ziel kamn, desto weiter entfernt schien Winter zu sein. Immer wieder blickte sie gebannt nach draußen.
Ich sagte: »Bist Du Doch traurig geworden, weil Deine Zeit langsam gekommen ist?«
Winter blickte mich verständnislos an und sagte: »Warum sollte ich der Zeit nachtrauern? Nächstes Jahr geht doch alles weiter.«
Ich sagte: »Du scheinst weit entfernt zu sein. Woran denkst Du?«
Sie sagte: »Das ist eine selten blöde Frage.«
Ich sagte: »Mir hat man beigebracht, dass es keine dummen Fragen gibt.«
Winter schüttelte energisch den Kopf und sagte: »Natürlich gibt es dumme Fragen. So eine blödsinnige Aussage lässt sich doch nur jemand einfallen, der wissen möchte, wie intelligenzbegabt sein Gegenüber wirklich ist.«
Ich sagte: »Dann entschuldige meine Frage.«
Sie sagte: »Du hast sie gestellt und ich kann nur sagen, dass Dich das nichts angeht.«
Ich sagte: »Das ist jetzt eine wirklich weibliche Reaktion.«
Sofort wechselte Winter die Mine. War sie gerade noch verärgert, zeigten sich Spuren von Interesse. Sie sagte: »Wie meinst Du das?«
Ich sagte: »Sobald eine Frau sagt, dass sie nichts hat und an nichts denkt, ist meistens etwas höllisch schiefgelaufen.«
Winter sagte: »Wirklich gut gelaufen ist es ja tatsächlich nicht. Sonst hätte sich Mutter mehr über mein Kommen gefreut. So war der Besuch eher niederschmetternd. Keine Ahnung was ich mir dabei gedacht habe, Dich mitzunehmen.«
Ich sagte: »War ich so schlimm?«
Sie sagte: »Das bisschen Reise hätte ich auch allein geschafft.«
Ich sagte: »Ich habe es gerne gemacht.«
Sie sagte: »Das ist ja noch schlimmer.«
Winter trommelte mit den Fingern auf der Fensterbank. So nervös hatte ich sie noch nie gesehen.
Ich sagte: »Was gibt es? Was beunruhigt Dich?«
Winter sagte: »Diese ganze Reise war völlig blödsinnig. Du musst planen, was Du im nächsten Monat mit Frühling anfängst.«
Ich nickte. Winter hatte recht, auch wenn ich das nicht gerne zugab. Dieser Spagat aus Reisen, die zu keinem Ziel führten und Meinungen, die wir uns gegenseitig an den Kopf warfen, führt zu nichts.
Ich hoffte, dass Frühling etwas strukturierter ist. Allerdings war das genauso hoffnungslos, wie die Vorstellung, dass sich eine Schlange in der Nasen bohrt.
Da Frühling augenscheinlich nicht organisiert ist, sondern soweit ich sie kennengelernt hatte, sich eher treiben ließ, würde es mir obliegen, ihrem Handeln eine Struktur zu verleihen.
Ich sagte: »Das wird wohl ein schwieriges Projekt.«
Winter nickte und sagte: »Kartenhäuser während eines Erdbebens zu bauen, stelle ich mir einfacher vor. Aber wenn Du es wirklich willst, kannst Du es schaffen.«
Ich sagte: »Ist das nicht der Spruch von Bob der Baumeister, den man heute viel zu oft hört?«
Winter nickte und lächelte. Für diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass wir uns verstanden.
Dann nickte sie und sagte: »Eigentlich bin ich froh, dass ich für das Spektakel Platz mache. Ich eigne mich nicht als Clown beim Rodeo.«
Ich sagte: »Gelegentlich kann ich Dich ja anrufen.«
Winter schüttelt den Kopf und sagte: »Geh mir bitte nicht auf die Nerven. Mach es oder geh dabei unter. Viel Spaß dabei.«
Wir rollten in einen Bahnhof ein, der mir vertraut vorkam. Die Bremsen quietschten und die Trägheit spielte ihre Spiele.
Winter erhob sich schwerfällig. Ihre Haare hingen ihr hinunter und ihr Blick war glasig. Sie sagte: »Ich bringe Dich nach Hause.«
Dann drehte sie sich zur Tür und war verschwunden. Sie ließ mich mit ihren zwei Koffern und meiner Tasche allein.
Es waren einige Tricks nötig um alles gleichzeitig, aus dem Abteil zu bekommen. Auf dem Bahnsteig wartete Winter auf mich. Ihre graziöse Gestalt ließ sich eindeutig hängen. Sie hatte eine Sonnenbrille ins Gesicht gezogen unter der ich die Augen müde blitzen sah.
Ich sagte: »Es wird wohl Zeit, dass Du Dir Ruhe gönnst.«
Mit einem Blick auf ihr Uhr sagte sie: »Ist noch nicht ganz meine Zeit. Ein wenig muss ich noch warten.«
Ich sagte: »Mit Herbst hattet ihr doch auch keinen fixen Übergang. Da bist Du doch etwas früher angefangen. Dann kannst DU doch sicherlich auch früher aufhören.«
Winter lachte trocken und sagte: »Das hier ist kein Schichtbetrieb. Frühling ist länger bei Mutter geblieben. Sie muss schon auftauchen, damit ich meine Arbeit niederlegen kann.«
Ich sagte: »Dann muss ich mich noch mit Deiner Anwesenheit rumärgern?«
Winter lächelte jetzt breit und sagte: »Soweit Du Dir nicht sofort das Leben nimmst – wahrscheinlich schon.«
Ich sagte: »Prima.«
Als ich am nächsten Morgen aus der Haustür kam, erwartete mich Winter.
Sie hatte sich eins ihrer weißen, fließenden Kleider angezogen, die ein wenig nach Hochzeit aussahen und wirkte ausgeruht.
Mit einem Lächeln sagte sie: »Was machst Du heute, Junge?«
Ich sagte: »Das Selbst wie die meisten Tage. Ich gehe arbeiten. Irgendwer muss ja das Geld verdienen.«
Winter sah mich ungläubig an, als hätte ich etwas verdammt Dummes gesagt. Sie sagte: »Darum gehst Du arbeiten?«
Ich sagte: »Es gab mal früher das Ziel, mein Hobby zum Beruf zu machen. Natürlich wäre ich gerne Schriftsteller geworden oder Rock-Star. Wer träumt da nicht von?«
Winter lachte trocken und sagte: »Das sind die typischen Träume meines Vetters Morpheus. Der macht sich ein Spaß daraus, euch Menschen solche Ziele in den Kopf zu pflanzen.«
Ich sagte: »Muss ein spaßiger Geselle sein.«
Sie sagte: »Glaub mir, er ist spaßiger als Frühling. Du solltest Dich vor ihr wirklich in Acht nehmen. Sie kann ziemlich übertreiben.«
Ich sagte: »Den Sandmann kenn ich nur aus dem Comic. Wie ist er denn so?«
Winter sagte: »Neben seinem Spaß an seinem Job, ist er ein großartiger Geschichtenerzähler.«
Ich sagte: »Das wäre ich auch.«
Winter lächelte und sagte: »Vielleicht solltest Du mehr träumen und weniger leben.«
Die Tage mit Winter waren gezählt und sie sah nicht unglücklich darüber aus.
Sie sagte: »Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, deiner ›Beta‹-Männchen-Existenz zu entfliehen. Es wird echt Zeit mich anderen Dingen zuzuwenden, mein Junge.« Dabei zeichnete sie Anführungszeichen bei dem Wort ‚Beta‘ in die Luft.
Ich sagte: »Ich fühle mich nicht wie ein ›Beta‹-Männchen.«
Winter lachte auf. Ein weiteres mal ohne einen Funken Humor.
Sie sagte: »Na Alpha bist Du auf jeden Fall nicht.«
Ich sagte: »Eigentlich bin ich weder das eine noch das andere. Mich interessiert nicht was die Alphas sagen und die Betas kratzen mich auch nicht. Weder diene ich noch herrsche ich. Bisher stand ich immer dazwischen.«
Winter sagte: »Der einzige, der am Hof weder herrscht und noch dient, ist der Narr.«
Ich sagte: »Den Job übernehme ich gerne.«
Winter sagte: »Dorftrottel hätte Dir auch gut zu Gesicht gestanden. Hätte ganz Deinen Leistungen entsprochen.«
Ich sagte: »Ich wusste nicht, dass Du dieses Jahr die Bewertung übernimmst. Danke für die Blumen.«
Winter sagte: »Die findet man in dieser Jahreszeit nur spärlich.«
Ich sagte: »Weniger Blühten bedeuten weniger Allergien. Das hat auch etwas für sich.«
Winter sagte: »Das ist doch hoffentlich nicht da Einzige, was Du an dieser Jahreszeit gut findest?«
Ich sagte: »Deine Jahreszeit ist voll OK. Ich liebe den Schnee und die Kälte. Gegen Kälte kann man sich wärmer anziehen. Gegen Hitze hilft gar nichts. Da klettert man höchstens in einen tiefen Brunnen und hofft, dass es bald aufhört.«
Für einen Moment schien ein Lächeln über Winters Gesicht zu huschen, welches erstmals ungekünstelt wirkte. Der Ausdruck war sehr kurz zu sehen, so dass ich mich hinterher fragte, ob er tatsächlich da war. Dann sagte sie: »Vielleicht komme ich im nächsten Jahr doch noch mal auf Dich zurück.«
Sie drehte sich um und ging. Anscheinend hatte ich unwillkürlich und unwissentlich einen Fehler begangen.
Winter erschien mir, während ich in der Küche stand. Mit den Fingern trommelte sie auf dem Türrahmen. Sie sagte: »Was machst Du da?«
Ich sagte: »Ist das nicht offensichtlich?«
Winter schüttelte den Kopf und sagte: »Das sieht so unkoordiniert aus. Als würdest Du improvisieren.«
Ich sagte: »In der Küche improvisiere ich gerne. Wenn ich nach Kochbuch kochen wollte, hätte ich auch weiter im Labor Chemikalien herstellen können.«
Mit ein paar Schritten stand sie hinter mir und sah in den Kochtopf.
Ich sagte: »Wenn Du Dich noch ein paar Minuten geduldest, bin ich fertig und Du kannst probieren.«
Winter schüttelte den Kopf und sagte: »Einem Chemiker sollte man nie trauen. Wahrscheinlich ist es giftig.«
Ich sagte: »Es wäre zumindest nett, wenn Du mich in der Küche in Frieden lassen würdest. Du kannst gerne alle Leute fragen, die mit mir in einer Küche oder in einem Labor standen – ich hasse es, wenn ich beim Kochen nicht alleine sein kann.«
Sie sagte: »Scheint Dein eigenes Reich zu sein.«
Ich sagte: »Solange ich koche ist es mein Reich. Danach fragt mich meine Frau allerdings immer, was ich mit ihrer Küche gemacht habe.«
Winter sagte: »Wenn Du immer anders kochst, dann gibt es ja gar kein Standard-Gericht.«
Ich zuckte mit den Achseln und sagte: »Ist Normal nicht irrsinnig langweilig?«
Winter sagte: »Wenn man außergewöhnlich ist, dann ist ’normal‘ erstrebenswert. Für alle Normale ist es die Hölle.«
Ich lachte auf und sagte: »Normal ist 66!«
Sie sagte: »Wie meinst Du das?«
Ich sagte: »Per Definition ist etwas normal, was zweidrittel aller Einwohner machen. Wenn zweidrittel aller Menschen in Deutschland nach allen drei Schritten einen zurück machen würden, dann wäre diese Gangart für Deutsche ›Normal‹. Prozentual entsprechen zweidrittel 66 Komma Periode 6. Abgerundet ist ’normal‘ = 66. Nach dieser Definition ist es allerdings weder normal ein Mann zu sein, noch eine Frau. Beide Bevölkerungsgruppen kommen nur auf ca. 50%.«
Winter nickte und sagte: »Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Dich in einem Tag los zu werden.«
Dann war sie verschwunden.
Winter hatte ein Glas Rotwein in der Hand. In ihren weißen Sachen wirkte dies verdammt mutig. Als ich ihr das sagte, lachte sie trocken auf.
Sie sagte: »Wir Unsterblichen verschütten nichts. Das ist der Vorzug – nach ein paar Jahrhunderten hat man den Dreh raus. Es passiert so gut wie nie, dass man sich stößt oder etwas verschüttet.«
Ich sagte: »Das ist dann wohl ein Erkennungsmerkmal. Wenn ich jemanden treffe, der sich vor mir auf den Bart legt oder der sich seinen Fuß an einem Stuhl stößt oder der einen Fleck auf dem Hemd trägt, dann weiß ich sofort, dass er nicht unsterblich sein kann.«
Winter sagte: »Deine Logik ist mal wieder unschlagbar.«
Ich sagte: »Sag mal hättest Du nicht schon längst Ruhe gehabt?« Winter sagte: »Hättest Du nicht längst 20 kg abnehmen sollen?«
Ich sagte: »Deine boshaften Kommentare werden mir fehlen. Was machst Du jetzt?«
Sie sagte: »Ich habe mir ein paar Bücher zugelegt. Außerdem kann ich hemmungslos Serien gucken.«
Ich sagte: »Eigentlich beneide ich Dich ein wenig. Einen Job, bei dem man die Hälfte des Jahres Urlaub hat, ist sicherlich kein schlechter. Außerdem scheint Dir selbst die eigentliche Arbeit kein wirkliches Problem zu bereiten.«
Winter sagte: »Mich hätte es härter treffen können.«
Dann sah sie mir für ein paar Augenblicke in die Augen, bis ich mich sehr unwohl fühlte. Für einen Moment wollte ich einfach nur aus dem Zimmer flüchten.
Sie sagte: »Wir werden uns sehen. Pass auf Dich auf. Außerdem musst Du bei Frühling aufpassen. Ich hoffe, dass sie Dich heil lässt.«
Ich sagte: »Es wird schon glattgehen.«
Ihre ausgestreckte Hand nehmend, verabschiedete ich mich  höflich. Dann war sie verschwunden. Das Rotweinglas stand verloren auf dem Tisch.
Beim Abräumen hätte ich es fast umgestoßen.

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