Im Wohnzimmer saß ein älterer Herr, der so aussah, wie das Klischee eines englischen Bankangestellten, aus den 1960gern. Man hätte ihn bei Mary Poppins als einen Freund des Vaters George Banks mitspielen lassen können.
Er hatte einen gezwirbelten Schnäuzer im Gesicht, eine Nickelbrille auf der Nase und ein Nadelstreifenanzug an. In der Hand hielt er eine Zeitung, in der er stöberte. In seiner Gegenwart bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen, nicht gerade am Arbeitsplatz zu sein. Er war ganz Geschäft und gar nicht Freizeit.
Zu Frühling gewandt sagte ich: »Warum entspricht Ihr immer irgendwelchen Klischees?«
Frühling sagte leise: »Diese Klischees müssen auch irgendwo ihren Ursprung haben. Es wäre doch enttäuschend, wenn die Auswirkungen ihrer Existenz eine Andere wären, als die dazugehörigen Naturkräfte, die sie bewirken. Oder anders ausgedrückt – Du kennst die Kraft intuitiv.«
Ich sagte: »Ihr nennt euch Naturkräfte?«
Frühling verdrehte die Augen und sagte: »Sollten wir nicht mit ihm sprechen?«
Nickend drehte ich mich zu Tag. Auf einem Holzschild über ihm standen, in geschnitzten Buchstaben, die Worte ›Carpe Diem‹.
Ich sagte: »Hallo!« Nichts passierte. Er schien sich nicht stören zu lassen und blätterte eine Seite um.
Etwas lauter sagte ich erneut: »Hallo!«.
Nach etwas zwei Minuten, sagte Frühling zu mir: »Es ist besser, wenn Du ihm eine konkrete Frage stellst. Vielleicht meint er sonst, dass Du ihm nur wichtige Zeit klaust.«
Ich sagte: »Was ist an Zeitunglesen denn so wichtig?«
Frühling sagte: »Für ihn ist es wichtig.«
Lauter sagte ich: »Wir hätten ein paar Fragen, wegen eines merkwürdigen Steins.«
Tag zeigte zuerst keine Regung. Nach einer längeren Pause sagte er: »Ein bestimmter berühmter Diamant oder etwas anderes?«
Ich sagte: »Es geht um einen tief schwarzen Stein, mit einem blauen Funkeln in der Mitte.«
Tag zeigte erneut keine Regung. Nachdem ich mich schon wegdrehen wollte, sagte er: »Fragt Nacht. So ein Stein klingt eher nach ihr. Ich glaub, dass ich schon einmal davor gehört habe, aber ich kann mich auch irren. Nacht weiß über solche Sachen Bescheid.«
Ich wandt mich zu Frühling und wollte gerade etwas fragen, als Tag sagte: »Sie ist oben.«
Frühling nickte und führte mich zur Treppe.

Von SackingBob74

1974 in Dorsten geboren, entdeckte man früh das fehlende sportliche Talent des Autors. Über Jahre erlernte er mühsam das Lesen und Schreiben, wobei er mit dem Letzteren immer seine Probleme hatte. Die Lehrer bescheinigten ihm ein hohes Maß an Fantasie und Flexibilität in der Rechtschreibung. Aus den oberen Gründen stand ihm lediglich der Zweig der Naturwissenschaften offen. Sein Werdegang wurde 2008 an Halloween mit einer Promotion in Chemie belohnt. Sein erstes Buch »Niedermolekulare Co-Kristallisation« erwies sich als Ladenhüter (Essener Uni-Bibliothek, wird wahrscheinlich z.Z. im unzugänglichen Keller aufbewahrt). Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, beschloss der Autor, das Genre zu wechseln. Seit ein paar Jahren veröffentlicht er in seinem Blog >SackingBob74.de< Geschichten über sich und die personalisierten Jahreszeiten. Er lebt mit seiner Familie in Gladbeck.

2 Gedanken zu „Tag“
  1. Liebende Sebastian
    Erstaunliches gesellt sich so in den unendlichen Fall
    immerwährender Gefälligkeit und irritierender Mißliebigkeit
    Neben wertstrotzenden Diamanten jene Perle
    „Du kennst die Kraft intuitiv“
    dankend
    Dir Joachim von Herzen
    Tagträumer und Nachtwächter

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