Beim Mittagessen merkte man der Gruppe an, dass sie sich verausgabt hatte. Die meisten ließen ihre Köpfe hängen und nahmen ihre Mahlzeit in kleinen Happen zu sich. Es herrschte allgemeines gefräßiges Schweigen.
Boris hingegen strahlten, als hätte er gerade an einem Starkstromkabel geleckt. »Die Theorien in dem Buch, belegt einige meiner eigenen Ideen, sind allerdings bei weitem nicht abschließend durchdacht.«
Ich nickte nur stumm und sah glasig in die Ferne.
Wie heute Morgen, saß Julia am anderen Tisch und schwatzte angeregt mit ihren Freundinnen, als würde sie die schon ewig kennen. Sie drehte mir immer noch den Rücken zu. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in mir aus, wenn ich zu ihr hinüber blickte.
Anja bemerkte meinen Gesichtsausdruck und sagte: »Die will doch sowieso nichts von Dir.«
»Sie lächelt immer, wenn sie mich ansieht.«
»Die lächelt immer. Das ist ihr normaler Ausdruck. Den hat man ihr als Baby ins Gesicht getackert.«
»Ist das nicht schön?«, fragte ich verträumt.
Boris sagte: »Die Menge an Hormonen, die diesen Raum füllt, reicht aus, um einen Elefanten darin zu ertränken. Dabei gibt es doch viel wichtigere Sachen, als die Liebe.«
Überrascht sah ich ihn an und sagte: »Was denn?«
Unbemerkt hatte sich Herr Helm in unsere Nähe geschlichen. Bisher war er noch nie aus dem Schatten seines Kollengens getreten.
Er sah Boris an und sagte: »Nichts ist größer als die Liebe. Es bleiben nur ›Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.‹
Wenn Du älter bist, wird Dir die Wahrheit dieses Satzes bewusst.«
Ich sagte: »Herr Helm, das war doch 1. Korinther 13: Das hohe Lied der Liebe.«
Herr Helm nickte und sagte: »Du kannst mich auch Siegfried nennen.«
»Sie müssen eine wirklich tolle Frau haben.«, sagte Anja. Ihre Stimme war nicht völlig frei von Ironie.
Siegfried schüttelte den Kopf und sagte: »Der Spruch spricht von der Liebe zum Herrn. Er stellte mein Leben in seinen Dienst. Ich lebe nach dem Wunsch von Paulus.«
Boris verzog das Gesicht, als hätte ihn gerade ein Waal geküsst.
Ich flüsterte: »Paulus meint, dass Singles Gott besser dienen. Er hielt eine geschlechtliche Beziehung für eine viel zu große Zeitverschwendung.«
»Ich dachte, das gilt nur für die Katholiken?«
»Pastoren werden nicht gezwungen unverheiratet zu bleiben. Es ist nur ein Tipp, keine Pflichtveranstaltung.«
Siegfried hatte die Unterhaltung verfolgt und sagte: »Ja das ist wirklich so.« Dann wandte er sich an Boris und sagte: »Warum hast Du denn nicht mitgespielt?«
»Sport liegt mir nicht so.«
Ich sagte: »Mir auch nicht, aber ich habe trotzdem mitgemacht.«
Siegfried lächelte mich an und tippte mir auf die Schulter. Dann ging er vom Tisch. Er verabschiedete sich mit den Worten: »Wir sehen uns gleich in der Bibelstunde.«
