Wie oft habe ich meinen Töchtern gesagt, dass sie Links und Rechts schauen sollen, bevor sie eine Straße betreten?
Sommer hatte mich abgelenkt.
Er stand hinter mir und sah zu, wie ich die Straße betrat. Für einen Augenblick war er sich nicht sicher, was gerade passierte.
Als er ganz plötzlich zu Schreien anfing, wusste ich, dass irgendetwas extrem schief lief. Sommer und schreien, das passte nicht zueinander.
Ich blickte mich um und konnte den Lastwagen sehen, der mit einer irren Geschwindigkeit auf mich zuraste.
In meinem Kopf erklang ein fürchterliches Geräusch, als der Kühlergrill meinen Körper berührte.
Sommer stand wie gelähmt da.
Er sah, wie ich erfasst wurde. Er hörte, wie die Reifen quietschen und die Knochen brachen. Dann sah er, wie ich meterweit durch die Luft geschleudert wurde und mit verdrehten Armen und Beinen, auf dem Gesicht liegend landete.
Er wusste sofort, dass ein menschlicher Körper so etwas nicht aushalten konnte.
Wie in Trance ging er los und beugte sich langsam über mich und betrachtete den Schaden.
Traurig schüttelte er den Kopf. Hier war nichts mehr zu machen.
Er hatte einige Geheimnisse von seiner Familie gelernt. Leider gehörte die Wiedererweckung nicht zu seinen Fähigkeiten.
Tausend Dinge gingen in seinem Kopf vor. Irgendjemand von seiner Sippe könnte hier vielleicht helfen?
Erneut schüttelte er den Kopf. Ihm wollte niemand einfallen. Mein letzter Vorschlag schien ihm immer mehr zu gefallen. Vielleicht war es besser, nach Hause zu gehen und mit einer Flasche Bier, den Abend zu beschließen.
Hier konnte er nicht mehr viel machen.
Er wartete nicht mehr auf einen Krankenwagen, da ihm das Ergebnis klar war. Er hatte schon sehr viele Menschen sterben sehen. Patricia und Johannes hatten auf jedem Fall nichts von dem Unfall mitbekommen. 
Mein Handy lag unweit von meinem Körper auf der Straße. Komischerweise hatte der Schutzrahmen und die Panzerglasfolie, alle Schäden abgehalten. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich meinen Körper mit dem Zeug verklebt.  
Sommer hob das Handy auf und steckte es ein. Es würde nützen, wenn er Patricia treffen wollte.
Wenn er sie morgen treffen würde, könnte er vielleicht mit dem Umfall punkten. Mitleid war ein starker Verbündeter. Das würde ihm vielleicht helfen.
Er holte einen Joint aus der Tasche, zündete ihn an und machte sich auf den Weg.

Von SackingBob74

1974 in Dorsten geboren, entdeckte man früh das fehlende sportliche Talent des Autors. Über Jahre erlernte er mühsam das Lesen und Schreiben, wobei er mit dem Letzteren immer seine Probleme hatte. Die Lehrer bescheinigten ihm ein hohes Maß an Fantasie und Flexibilität in der Rechtschreibung. Aus den oberen Gründen stand ihm lediglich der Zweig der Naturwissenschaften offen. Sein Werdegang wurde 2008 an Halloween mit einer Promotion in Chemie belohnt. Sein erstes Buch »Niedermolekulare Co-Kristallisation« erwies sich als Ladenhüter (Essener Uni-Bibliothek, wird wahrscheinlich z.Z. im unzugänglichen Keller aufbewahrt). Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, beschloss der Autor, das Genre zu wechseln. Seit ein paar Jahren veröffentlicht er in seinem Blog >SackingBob74.de< Geschichten über sich und die personalisierten Jahreszeiten. Er lebt mit seiner Familie in Gladbeck.

11 Gedanken zu „Überfahren“
        1. Ich mein jetzt ehrlich – da gab es doch so eine blödsinnige König Artur Verfilmung, in dem der Ich-Erzähler am Ende stirbt und als Pferd wiedergeboren wird. Was soll das heißen? Dass die Geschichte von einem Pferd erzählt wird?
          Also mich hat das total gestört.
          Auch der Film: „Die neun Pforten“ – am Ende „stirbt“ der Hauptdarsteller, d.h. er betritt die Hölle durch die Pforte und die Geschichte ist sofort Schluss.
          Ich befürchte, dass es hier trotzdem weitergeht. Wer denkt sich bloß so einen Schachsinn aus?
          Ich für meine Teil werde erst mal ein wenig ausruhen müssen.
          Gruß,
          Sommer

          1. Hallo Bruder,
            Dass es hier weiter geht ist auch der gesamten Leserschaft klar. Ich habe gerade erst mal in ruhe den unkonfigurierten Router genutzt und Simmis Mamas Account gehackt. Habe ja im Moment Zeit für alles: Hacken, Prädikate in Fischsätzen suchen ich-Erzählungen lesen, Handys mit Panzerglas suchen und meinen Bruder necken.
            Gruß dein Herbst

  1. Mir gefällt der logische Verstand von Sommer, diese innere Ruhe… ich glaube ich brauch auch mal ein wenig von dem Kraut um runter zu kommen 🙂

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