Frühling und ich blickten auf eine kleine Box, auf der mit zittriger Handschrift eine Nummer auf einem Klebezettel geschmiert wurde. Mit der gleichen Handschrift standen auf dem Zettel: ›Die alte Dame im verschlossenen Raum‹. Die Aufschrift erinnerte mich ein wenig an Cluedo, es fehlte noch Waffe und Täter. Enttäuschenderweise hatten wir damit keinen Gewinner.
Ich sagte zu Frühling: »Wer von Deinen Geschwistern hat denn diese süße Handschrift?«
Frühling sagte: »Sie passt nicht zu Herbst und Winter. Winter versucht sich in Kaligraphie und Herbst lässt die Buchstaben ziellos und nackt im Raum stehen.«
Ich sagte: »So hätte ich die beiden auch eingeschätzt. Vielleicht kann man ja doch von der Handschrift auf die Person schließen.«
Frühling sagte: »Vielleicht findest Du hier ein dickes Buch über Graphologie, mit dem ein Personaler von einem Bewerber erschlagen wurde. Sowas passiert ja alle paar Jahre. Das Buch könnte uns jetzt ganz doll helfen.«
Ich sagte: »Du weißt doch, dass man Beweisstücke nicht so lang aufbewahrt. Außerdem bringt uns das Wissen, wer das hier geschrieben hat, den Täter nicht näher. Der würde sicherlich nicht seine eigenen Akten beschriften.«
Frühling sagte: »Was würdest Du denn in diese Schrift deuten?«
Ich sagte: »Das ist ein Mann oder eine Frau, mit einem sehr geringen Selbstwertgefühl – sowas sieht man an der Größe der Schrift – der oder die anscheinend in Eile gewesen ist.«
Frühling sagte: »Ich sehe hier die Handschrift eines kleinen Greises, der sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. Er hat diese Worte mit seiner letzten Kraft auf den Zettel schreiben können, bevor er seinen letzten Atemzug nahm.«
Ich sagte: »Denk doch darüber nach, wo wir hier sind. Hier arbeiten keine Greise.«
Frühling sagte: »Dann war es das kleine Kind eines Beamten, welches unbedingt auch einmal etwas beschriften wollte. Wahrscheinlich hatte es das Schreiben gerade erst gelernt.«
Ich sagte: »Lass uns doch jetzt bitte hinein sehen. Ich platze schon vor Neugierde.«
Frühling lachte und öffnete die Box.

Von SackingBob74

1974 in Dorsten geboren, entdeckte man früh das fehlende sportliche Talent des Autors. Über Jahre erlernte er mühsam das Lesen und Schreiben, wobei er mit dem Letzteren immer seine Probleme hatte. Die Lehrer bescheinigten ihm ein hohes Maß an Fantasie und Flexibilität in der Rechtschreibung. Aus den oberen Gründen stand ihm lediglich der Zweig der Naturwissenschaften offen. Sein Werdegang wurde 2008 an Halloween mit einer Promotion in Chemie belohnt. Sein erstes Buch »Niedermolekulare Co-Kristallisation« erwies sich als Ladenhüter (Essener Uni-Bibliothek, wird wahrscheinlich z.Z. im unzugänglichen Keller aufbewahrt). Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, beschloss der Autor, das Genre zu wechseln. Seit ein paar Jahren veröffentlicht er in seinem Blog >SackingBob74.de< Geschichten über sich und die personalisierten Jahreszeiten. Er lebt mit seiner Familie in Gladbeck.

4 Gedanken zu „Schönschrift“
    1. Ja klar. Bin sowieso gerade fertig mit Frühling… 😉
      Da kann man was zwischenschieben, gerade weil ich noch nicht weiß, was ich mich Sommer mache.
      Aber es kann ein paar Tage dauern.

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