Ich sagte: »Eigentlich ist es beruhigend für einen Sterblichen, dass Deine Familie ähnlich funktioniert wie unsere.«
Winter sagte: »Ist jetzt nicht so, als wäre ich darauf stolz. Allerdings sind diese Liebeleien untereinander gut zu erklären. Wenn es nur ein paar Kandidaten und Kandidatinnen gibt, ist die Partnerwahl stark eingeschränkt. Dazu kommen noch ein paar Ewigkeiten und schon hat man die Zutaten einer griechischen Tragödie.«
Langsam schüttelte ich den Kopf und sagte: »Ödipus und die anderen wären mir als Vorlage nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte da viel mehr an Lindenstraße.«
Ein heiseres Lachen erklang aus Winters Richtung. Sie nickte nur, während wir durch die Tür zum Zug gingen. Das Meer hatte sich nicht beruhigt.
Es war schon merkwürdig aus den hohen und riesigen Hallen, zurück auf den schmalen Bahnsteig zu treten. Da wo sich die Halle weitete, war jetzt das Meer.
Mit sicherem Schritt ging Winter auf die nächste Tür zu.
Reden hatte wenig Sinn, da das Meer tobte. Meine Lippen schmeckten salzig und Wind streifte durch meine Haare.
Als sich die Tür hinter uns schloss und wir uns gesetzt hatten, sagte Winter: »Das Fernsehen, hat es geschafft, aus Familienstreits abendliche Unterhaltung zu generieren.«
Ich lächelte und sagte: »Und als das nicht mehr nützte, setzte man Leute im Urwald aus.«
Die Mine von Winter verfinsterte sich. Sie sagte: »Guckst Du Dir den Mist an?«
Ich sagte: »Wenn ich Elend sehen möchte, schau ich mir meine alten Zeugnisse an. Anderen Menschen bei ihren Erniedrigungen zuzuschauen, entspricht nicht meiner Natur.«
Winter sagte: »Und doch hat es einigen Unterhaltungswert.«
Eine meiner Augenbrauen wanderten nach oben. Ich sagte: »Du schaust Dir den Mist an?«
Winter lächelte und schwieg.

Von SackingBob74

1974 in Dorsten geboren, entdeckte man früh das fehlende sportliche Talent des Autors. Über Jahre erlernte er mühsam das Lesen und Schreiben, wobei er mit dem Letzteren immer seine Probleme hatte. Die Lehrer bescheinigten ihm ein hohes Maß an Fantasie und Flexibilität in der Rechtschreibung. Aus den oberen Gründen stand ihm lediglich der Zweig der Naturwissenschaften offen. Sein Werdegang wurde 2008 an Halloween mit einer Promotion in Chemie belohnt. Sein erstes Buch »Niedermolekulare Co-Kristallisation« erwies sich als Ladenhüter (Essener Uni-Bibliothek, wird wahrscheinlich z.Z. im unzugänglichen Keller aufbewahrt). Um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, beschloss der Autor, das Genre zu wechseln. Seit ein paar Jahren veröffentlicht er in seinem Blog >SackingBob74.de< Geschichten über sich und die personalisierten Jahreszeiten. Er lebt mit seiner Familie in Gladbeck.

5 Gedanken zu „Erniedrigte Fremde“
  1. »Ödipus und die anderen wären mir als Vorlage nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte da viel mehr an Lindenstraße.«

    Und dann noch ‚Dschungelcamp‘.
    Hiiiiiilfe!!! Verfall der Sitten!!! 😩 🙈

    1. Hab ich mir ja auch gedacht! Ganz ehrlich, ich hab noch nie eine einzige Sendung geschaut. Genauso wie der ganze andere Kram. Aber ich kenne unendlich viele, die es machen. Einen Schritt weiter gehend, würde ich es sogar schon fast als „normal“ bezeichnen, wenn man es guckt.
      Erleichterung – ich bin mal wieder nicht normal! 😉

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